Maximilian Weigl

  

maxweigl@web.de

www.longwayhome.de



(aus: http://wellpapers.pixxp.com)
(aus: http://wellpapers.pixxp.com)

Auf einem dunklen Stern

Ein Kriminalroman in zehn Teilen für koku2012

Einleitung

 

Irgendwann in der Zukunft: Konrad Kubak, mittelklassiger Reporter des MOCCA, des Magazine of Classical and Contemporary Art, hat die Niete gezogen. Sein Chef beordert ihn zu einer Sonderschicht: einen Vor-Ort-Bericht zu schreiben über die international bekannt gewordene, einwöchige Kunstaustellung ComCult, deren Trägerschaft von Mal zu Mal wechselt und die dieses Mal von Dimitrios Barakis, einem gebürtigen Engländer, veranstaltet wird. Barakis, ein steinreicher, über siebzig Jahre alter Tycoon, hat die ComCult kurzerhand in den Weltraum verlegt, genauer: in das sündhaft teure, von ihm erbaute Orbit Hotel, das seit zwei Jahren im Erdorbit vor sich hin schwebt und viel mehr kostet als es einnimmt. Die Menschen haben sich einfach noch nicht an den Gedanken gewöhnen zu können, selbst in den Weltraum zu fliegen.

Kubak, nicht gerade bekannt für seine Brisanz und Spitzfindigkeit, scheint seinem Chef also das ideale Opfer  für einen Weltraumflug zu sein. Dieser schickt ihn nach Cornwall, England, zum Raumhafen Penzance, von wo aus der Blue Glider startet, ein fortschrittliches, energiesparendes Orbitalflugzeug. Missgestimmt versucht Kubak, seiner Arbeit nachzugehen, hat gegenüber der kecken und redseligen Clara Swansea vom renommierten Art Explorer jedoch das Nachsehen. Zu allem Überfluss muss er sich von der nicht gerade reizenden Madame Chapeau und ihren beiden geklonten Katern auch noch anhören lassen, wie er seine Arbeit zu verrichten hätte. Zudem sind alle anwesenden Künstler – darunter die Opportunistin Lu Chang, der selbstverliebte Rob Boss und der völlig von der Realität enthobene Oktober – nicht gerade einfache Charaktere. Entschlossen, aufzugeben, plant Kubak seine Abreise – doch jemand sabotiert die Veranstaltung und schreckt auch vor Mord nicht zurück. Das weckt Kubaks Interesse. Geht es vielleicht um das geheimnisvolle Final Act, das letzte Kunstwerk der Austellung, das sein Schöpfer Dimitrios Barakis mit aller Gewalt unter Verschluss hält? Oder soll das Chaos, das jemand im Orbit Hotel stiftet, selbst eine Art Kunstwerk sein?


Teil 1

Die Fliege

 

Allein sich vorzustellen, die Erde von oben zu sehen, genügte, und Konrad Kubak riss sich erneut von seinem Tisch los, stürzte ein paar Meter in Richtung Strand und übergab sich in den Rinnstein der Promenade. Die Blicke der Passanten tätschelten seinen Rücken; das spürte er genau. Unerwartet, dachte er. Er war davon ausgegangen, spätestens nach dem vierten Mal zum Infizierten abgestempelt zu werden. In der Stadt jedenfalls wäre das so gelaufen.

 

Als Kubak sich wieder gefangen und tief Luft geholt hatte, tupfte er sich mit einem Papiertaschentuch den Mund ab, steckte es in seine Gesäßtasche und torkelte zurück an den Tisch. Die Serviererin lächelte schief: »Wenn Sie keinen Teacake vertragen, kann ich Ihnen auch etwas anderes bringen.«

 

»Nein, nein«, winkte Kubak ab und schüttelte energisch den Kopf. »Der Teacake ist großartig. Wirklich.« Die Kellnerin versuchte, sich mehrmals abzuwenden; erst als Kubak aus Mitleid eine heiße Milch mit Honig bestellte, tänzelte sie davon.

 

Während er an den Resten seines Teacake knabberte, lehnte sich Kubak in seinem Klappstuhl zurück, verschränkte die Beine, ließ seinen Blick über den Hafen von Penzance schweifen und stellte sich vor, es wäre schön hier. Angenommen, die Sonne würde scheinen, die Brandung würde nicht jede Menge Dreck ins Hafenbecken spülen, es gäbe weniger Möwen als freundliche Leute und weniger Windkraftanlagen als Möwen, ja, dann könnte er sich sogar vorstellen, hier seinen Urlaub zu buchen. Angenommen ...

 

Kopfschüttelnd beäugte er den Windräderwald im Morgennebel (ein passender Titel für irgendein Naturgemälde, dachte er) und schüttelte missbilligend den Kopf. Dass man Opfer bringen musste, um die Energierevolution voranzutreiben, das war ihm bewusst. Nur, warum musste man dazu die Welt noch weiter verschandeln? Was brachten die hundert Windkraftwerke wirklich, die da unaufhörlich ratterten und sicherlich Tausenden von Delphinen und Walen die Orientierung kosteten? Was brachten sie, wenn Kinder irgendwann Urlaub auf den Malediven machen und ihre Eltern verdutzt fragen würden, warum im indischen Ozean denn keine Windräder wuchsen? Und was, vor allem, brachte die korpulente Frau, die sich just zwischen ihn und das Meerpanorama stellte, so tat, als wäre sie hochentzückt, und auf seinen Tisch zuwankte?

 

»Wie nett, wie nett«, trompetete sie (obgleich sie mehr nach einer Basstuba klang), und fügte, während sie sich neben Kubak auf einen Klappstuhl zwängte, der unter der neuerlichen Last reichlich klapperte, freudestrahlend hinzu: »Ein weiterer Teilnehmer.«

 

»Was?« Gestatten, Konrad Kubak. Er hatte die Höflichkeit nicht erfunden und deshalb das kürzeste Streichholz nicht aus Zufall gezogen. Als er dem neugierigen Blick der Dame folgte, fiel ihm die Eintrittskarte wieder ein, die unter seiner Untertasse steckte. ComCult 2039. Admission ticket #29. Serves as press card. Flight included. »Und auch eine Kollege? Wie reizend!« Die Dame hatte sich so weit zu ihm herübergebeugt, dass Kubak befürchtete, er würde bald in ihre Umlaufbahn eintreten. Umlaufbahn. Die Erde von oben. Ihm wurde erneut schlecht, doch riss er sich im letzten Moment zusammen, als die Kellnerin kam und die heiße Milch servierte. Nicht, dass die das auch noch als persönlichen Angriff auf ihre Erscheinung sähe! »Darf’s für Sie auch etwas sein, Madam?«

 

»Kaffee, schwarz, aber bitte nicht für Diabetiker, sie verstehen, Schätzchen? Und einen Fudge Cake.«

 

»Gerne doch.«

 

Als die Kellnerin in den Innenbereich des Cafés verschwand, reichte die Dame Kubak die Hand und lächelte ihn an, als würde er gleich unwissentlich einen Vertrag unterschreiben. »Chelsea. Clara Chelsea.«

 

»Einfach nur Kubak.«

 

»Sie kommen nicht von hier, ja?«

 

»Aus Deutschland. Ich hab das kurze Streichholz gezogen.«

 

»Aber, aber, mein Lieber. Ein Scherzbold, wie er nur aus Deutschland kommen kann. Ich war ja schon oft in Deutschland, wissen Sie?«

 

»Ja, wirklich?« Kubak gab sich alle Mühe, nicht zu interessiert zu klingen, doch er hatte in ein Wespennest gestochen. Miss Chelsea holte tief Luft und quasselte in einem Fort auf ihn ein. Wo sie herkomme, dass sie noch immer unverheiratet sei, dass sie ja so gespannt sei auf die kommenden Tage, schließlich, so etwas erlebe man ja nur ein Mal im Leben und überhaupt ...

 

Kubak mobilisierte eine letzte Reserve Höflichkeit, versuchte zu lächeln und nickte an passenden Stellen. Als er sah, dass sein Sekundenzeiger in Relation zur edegeschwindigkeit Miss Chelseas langsamer zu ticken begann, verfluchte er Leonard und alle, die ihn hierhergebracht hatten, einschließlich seiner selbst. Alles, was er je über die Unverhältnismäßigkeit von Strafen gelernt hatte, wurde ihm in jenen fünf Minuten zwischen dem Beginn der Lebensgeschichte Miss Chelseas und dem Eintritt eines Brockens Fudge Cake in ihren Mund schlagartig wieder bewusst.

 

»Und Sie schreiben für wen nochmal?« So verständlich, wie Miss Chelsea mit vollem Mund noch sprach, musste sie viel geübt haben. »Bestimmt für ein großes Magazin, nicht wahr?«

 

Kubak seufzte. Das würde ein langer, langer Tag werden.

 

***

 

Um sich die Zeit bis zur Abfahrt zu vertreiben und seine Gedanken zu zerstreuen, verbrachte Kubak den Rest des Morgens mit einem ausgedehnten Spaziergang mit seiner nicht minder ausgedehnten Begleiterin. Für einen Moment überlegte er sich, ob er einfach vor Miss Chelsea davonlaufen sollte, aber er befürchtete, dass jeder weitere Akt der Unhöflichkeit, den er sich in seinem Leben leistete, auf irgendeiner Liste festgehalten wurde, und dass ihn Leonard das nächste Mal vielleicht auf den Neptun schießen würde, weil dort ein neuer Zoo eröffnete. Nein, nein, Kubak, so etwas brockst du dir nicht noch einmal ein, dachte er. Also schlenderte er bewusst langsam neben Miss Chelsea her, damit diese Schritt halten konnte konnte, und widersprach kein einziges Mal, wenn sie fragte, ob sie ihm diese eine Geschichte noch erzählen könne, die ihr gerade auf der Zunge brenne.

 

Miss Chelsea war einundfünfzig, also rund fünfzehn Jahre älter als Kubak. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass sie sich für alles begeistern konnte. Kubak hatte nur MOCCA sagen müssen, und sie hätte vor Entzücken beinahe einen Luftsprung gemacht. Sie ließ es sich auch nicht nehmen, Kubak zu erklären, wie sehr doch und auf welche Weise das MOCCA großartiger sei als der Art Explorer, das Magazin, für das sie arbeitete, und Kubak hätte sich geschmeichelt gefühlt, wenn er nicht gewusst hätte, dass das Magazine of Classical and Contemporary Art die einfältigste aller kunstorientierten Zeitschriften war und Miss Chelsea dies nicht unbekannt sein konnte. Allein, welcher Deutsche sich großartig vorgekommen sein musste, als er den Namen MOCCA hervorbrachte, war Sinnbild für alles, was dieses Schmierblatt auszeichnete.

 

Durch Miss Chelseas Monolog wurde sich Kubak einer Sache bewusst: Er hatte absolut keine Ahnung. Er wusste nichts Wesentliches über die ComCult, kaum etwas über Dimitrios Barakis, den Veranstalter, und rein gar nichts über das Orbit Hotel. Er hatte nur den Auftrag und das Flugticket bekommen. Den Rest, so dachte er, wollte er einfach auf sich zukommen lassen. »Kubak, mein Lieber«, hatte er Leonards Worte noch im Ohr, »es werden einige Leute von der Konkurrenz kommen. Wenn wir nachher alle Artikel vergleichen, ist deiner am längsten, hat die besten Bilder, die besten Zitate, die besten Infos. Klar? Nochmal so einen Müll wie bei der Backsteiger-Affäre, und du fliegst.« Kubak knirschte mit den Zähnen. Wie sollte er bei so einer Konkurrenz den besten Artikel liefern können? Es schien ihm beinahe so, als könne Miss Chelsea bereits jetzt einen hundertseitigen Bericht über die Com- Cult schreiben und immer noch informativer sein als Kubak nach zwei Jahren.

 

Kurz vor zwölf fanden sich Miss Chelsea und er an einer Bushaltestelle in der Stadtmitte ein. Die rund zwanzig bunt gemischten Leute, die unter dem Regendach Schutz vor dem einsetzenden Nieselregen suchten, strahlten eine Nervosität aus, die Kubak eigentlich hätte beruhigen sollen. Doch gerade jetzt gelang es ihm nicht, sich am Elend der anderen emporzuziehen, im Gegenteil: Jetzt zogen sie ihn mit in den

Abgrund.

 

Jemand hatte einen laminierten Zettel an einen Laternenpfahl geklebt: ComCult Shuttle. Kubaks Magen zog sich zusammen. »Sind wohl alles Kollegen, was?«, kicherte Miss Chelsea und deutete auf die Fototaschen, die Notizblöcke, die Audiorekorder. »Wo ist eigentlich Ihr Equipment, Kubak?« Er schluckte. Nun war es amtlich: Er würde fliegen.

 

Als der Shuttlebus mit heulend ratterndem Motor in Sichtweite kam, den Bordstein schrammte, vor dem Pulk stehen blieb und die Pneumatik der Türen zischte, lächelte Kubak missmutig. Nun ... fliegen würde er jetzt ja sowieso.

 

Der Shuttlebus polterte durch das Hinterland Cornwalls. Beim Anblick der Hecken, der kleinen Dörfer, der Hecken und der Gärten überkam Kubak der Drang, einen Liebesroman zu schreiben – mit sich und Miss Chelsea in der Hauptrolle.

 

»Sagen Sie, Kubak, welcher der Künstler interessiert Sie am meisten?«

 

Oh ja, das würde was werden. »Nun, wissen Sie, Clara, ich gehe unvorbereitet an die Sache heran. Wenn ich zu viel über die Künstler und ihre Kunst weiß, dann verliere ich den Blick des Erstrezipienten, und das wäre doch nicht förderlich für einen Beitrag, der für Leute gedacht ist, die sich sonst nicht mit Kunst beschäftigen. Nicht wahr?«

 

Kubak hoffte, nur für ein paar Minuten Ruhe zu haben, doch weit gefehlt. Miss Chelsea ergriff den Zaunpfahl, mit dem Kubak nie gewunken hatte, und sagte: »Das ist eine interessante Herangehensweise, wirklich. Ich sehe, Sie haben sich intensiv mit der Materie ihrer Arbeit auseinandergesetzt. Da haben Sie Ihren Konkurrenten einiges voraus, das versichere ich Ihnen.«

 

Schief lächelnd sank Kubak immer tiefer in den Sitz, als ein breites braunes Schild am Straßenrand seine Nervosität erneut entfachte: Penzance Orbital Ferry Services. Der Bus bog von der Landstraße ab und durchquerte ein sperrangelweit offenes Gittertor.

 

»Wir sind da.« Selbst Miss Chelsea barst nun vor Anspannung. Aufgeregtes Raunen ging durch die Sitzreihen. Ein Knacken im Lautsprecher, dann ein Schwall übersteuertes kornisches Gibberish. »Er sagt, wir sind da«, übersetzte Miss Chelsea. Der Bus kam abrupt zum Stehen, die Türen öffneten sich schwerfällig.

 

Erstaunt stellte Kubak beim Aussteigen fest, dass noch zwei weitere Shuttlebusse auf dem Gelände parkten. Deren Passagiere standen jedoch bereits vor den Eingangsportalen des Terminals, eines Gebäudes in nass glänzendem Photovoltaikplattenblau.

 

Während der Busfahrer den Kofferraum öffnete und die Reporter sich gegenseitig aus der Reihe drängten, um nur ja schneller voranzukommen, winkte Miss Chelsea Kubak zu. »Kommen Sie! Sie haben Ihren Rucksack ja bereits auf.«

 

»Wo haben Sie eigentlich ihre Ausrüstung, Clara? Und ihr Gepäck?«

 

»Immer dabei. Interviews kann ich mit meinem Handy aufzeichnen, Fotos machen auch. Und Texte schreiben sowieso.«

 

»Fotos mit einem Handy? Und die Qualität genügt ihrem Chefredakteur?«

 

»Nein. Aber wenn er mich für einen Job will, muss er mich ihn so machen lassen, wie ich es will. Ich habe nicht die Puste für schweres Equipment.«

 

»Auch nicht für Gepäck? Wäsche?«

 

»Meine Assistentin hat das ganze Zeug dabei.«

 

»Ihre Assis...«

 

»Lotty! Lotty!« Miss Chelsea begann, wie eine Besessene zu winken. Eine junge Frau schälte sich aus der Masse. Sie schleppte zwei Reisetaschen vor sich her und wäre beinahe vornübergestürzt. Kubak bemerkte die kaum mehr ersichtlichen fernöstlichen Züge im Gesicht der Frau. Als er und Miss Chelsea vor ihr Halt machten, deutete sie eine Verneigung an. »Da sind Sie ja. Ich befürchtete, Sie würden nicht mehr kommen.«

 

»Ich habe den Morgen in Penzance verbracht, Schätzchen. Das hier ist ... Kubak. Er schreibt für das MOCCA«, und dabei betonte sie MOCCA wie die Pointe eines Witzes, den niemand erzählt hatte. »Und, Kubak, darf ich vorstellen: Song Jeong-min-Pinkerton – sie kommt aus Asien. Sie können Sie aber auch Lotty nennen, wenn Sie möchten.«

 

Lotty reichte Kubak die Hand und deutete wieder eine Verneigung an. »Sehr gerne. Aber«, begann sie, an Miss Chelsea gewandt, »in einer Sache möchte ich Sie bitten, Sie korrigieren zu dürfen. Vorstellen könnten Sie mich Herrn Kubak nur, wenn ich über ihm stünde. Da dies nicht der Fall ist, würde ich es bevorzugen, wenn Sie mich ihm nur bekannt machen würden.«

 

»Ach, Schätzchen, das ist doch Haarspa...«

 

»Nein, nein, Miss Chelsea«, begann Kubak. »Ist in Ordnung. Ich glaube, Ihre Assistentin hat Recht.« Und er wandte sich an Lotty. »Ich möchte mich Ihnen bekannt machen. Kubak.«

 

»Lotty.«

 

»Bekannt machen kann man so nicht konstruieren, Kubak«, quetschte Miss Chelsea zwischen ihren Zähnen hervor. »Sie müssen den Dativ weglassen. Oder aber ...«

 

»Das ist doch Haarspalterei .«

 

Ein digitaler Glockenton dröhnte durch eine Lautsprecheranlage. Die Menge, die sich inzwischen vor dem Eingangsportal zusammengeballt hatte, stellte ihr hohles Raunen ein, als eine blecherne Stimme verkündete: »Liebe Gäste. Willkommen zum Flug 27 ins Orbit Hotel. Bitte halten Sie Ihr Ticket für den Check-in bereit. Sollten Sie im Handgepäck Flüssigkeiten mit sich führen, bitten wir Sie, diese in ihr Fluggepäck umzusortieren. Vielen Dank.« Damit öffneten sich die automatischen Türen, und die Menge strömte in das Terminal wie Sand durch ein Stundenglas.

 

***

 

Der Check-in verlief nicht anders als bei jedem beliebigen Interkontinentalflug. Kubak ließ es sich nicht nehmen, Lotty einen Teil ihres Gepäcks abzunehmen, was Miss Chelsea amüsiert kommentierte. Als sie dem Personal alle schweren Stücke übergeben hatten, schlenderten sie zu dritt durch das Terminal und wurden wie magisch angezogen von einem Flughafencafé, von dem aus man einen Panoramablick über die Start- und Landebahn hatte. Dort draußen stand er: der Blue Glider, das erste öffentliche Orbitalflugzeug der Welt. In seiner Form ähnelte er der Concorde III und war ebenso weiß. Das Adjektiv blue, folgerte Kubak, hatte etwas mit Sparsamkeit zu tun, auch wenn er sich nie sonderlich für technische Details interessiert hatte. Und in diesem Augenblick, in dem er sich vorstellte, dass der Blue Glider die Atmosphäre durchstoßen und in den Erdorbit eintreten würde, gab es ohnehin nichts, was ihn mehr interessierte als weißes Porzellan.

 

»Magenprobleme?« Lotty drückte ihm eine Tablette aus der Packung. Sie ahnte, dass er nicht ablehnen würde: Seine Miene musste Bände sprechen. »Ich hole Ihnen ein Wasser, ja?«

 

»Nein, nein, ich nehme sie so. Danke.« Kubak mühte sich zwei Minuten mit der Tablette ab, bis sie endlich seine Kehle hinabrutschte. In dieser Zeit hatte sich Miss Chelsea einen Cappuccino geholt. »Und Sie möchten nichts, Kubak?«, fragte sie. »Einen Mokka vielleicht?« Das spitze Gelächter, in das sie für eine halbe Sekunde ausbrach, ließ alle Gäste im Umkreis von vier Metern zusammenzucken.

 

Kubak lächelte, als hätte er den Witz überhört. »Nein, danke. Ist alles super.«

 

***

 

Wie Kubak befürchtet hatte, verzögerte sich der Start des Blue Glider um keine Sekunde. Bald wurden alle Passagiere aufgerufen, sich auf den Weg zu machen.

 

Als Kubak hinter Miss Chelsea und Lotty hertrottete, wurden ihm die Knie weich. Noch kannst du alles abblasen, Kubak, noch kannst du dich umdrehen, gehen und dir einen anderen Job suchen. Einen, für den man dich respektiert. Einen, der Spaß macht.

 

Nach und nach tröpfelten die Fluggäste in den Blue Glider, bis Miss Chelsea an der Reihe war. Die Stewards halfen ihr die schmalen Stufen hinauf. Hinter ihr folgte Lotty. Als sie bereits oben stand und zu Kubak hinabschaute, hinablächelte, da schalt er sich einen Dummkopf, einen elenden Tunichtgut, einen unverbesserlichen, allzu berechenbaren und hoffnungslos romantischen Vollidioten, doch es half nichts – als er fertig war, sich zu beleidigen, saß er neben Lotty im Blue Glider. Miss Chelsea besetzte die beiden Sitzplätze vor ihnen.

 

»Ich hätte Ihnen ja angeboten, am Fenster sitzen zu dürfen, Lotty, aber ...« Kubak schielte nach oben. Die komplette Oberseite des Orbitalgleiters war aus Glas, damit man auch ja alles sehen konnte. Je länger Kubak darüber nachdachte, desto weniger verstand er, warum man nicht eher den Boden durchsichtig gemacht hatte. »Okay.« Er holte tief Luft und riss sich zusammen. »Jetzt geht’s los.«

 

»Es dauert noch, Herr Kubak«, erklärte Lotty. »Es ist nicht einmal die Hälfte der Passagiere eingestiegen.«

 

»Mir egal. Ich will es nur hinter mich haben.«

 

»Hinter mir.« Lotty kicherte, Kubak stimmte mit ein. Er war ein Idiot. Unter den Passagieren befanden sich, wie Kubak bald erleichtert feststellte, nicht nur Reporter von Konkurrenzblättern, sondern auch jede Menge Gäste. Wie Miss Chelsea erklärte, waren dies hauptsächlich Prominente aus aller Welt, die an der Eröffnungsfeier teilnehmen durften, die noch diesen Abend stattfinden würde. Die Künstler seien allesamt bereits letzte Woche angereist, um die Ausstellung nach ihren Wünschen zu gestalten, und die meisten der Besucher würden im Laufe

der nächsten drei Tage eintreffen.

 

Als eine von drei Federboas umschlungene Dame durch den Mittelgang schritt, eine weiße, mit Schlitzen versehene Kiste vor sich hertrug und den Steward mit ausladender Stimme nach ihrem Platz fragte, wandte sich Miss Chelsea, so weit sie eben konnte, zu Kubak und Lotty um und flüsterte rau: »Die noblesse ist auch da, wie fein. Madame Chapeau und ihre verfluchten geklonten Kater.«

 

»Sie hat ihren Kater klonen lassen?«

 

»Ihren ersten Kater.«

 

Auf Drängen des Stewards überreichte die Madame diesem die weiße Kiste. »Aber passen Sie mir nur auf, Monsieur. Wenn Napoleon IX und Napoleon X etwas zustößt, mache ich Sie persönlich dafür verantwortlich.«

 

Miss Chelsea flüsterte weiter: »Sie denkt, sie sei eine große Schauspielerin gewesen, aber kein Mensch weiß, in welchen Filmen sie mitgespielt haben soll. Hat eine Menge Geld geerbt. Ihr Mann ist früh gestorben.«

 

»Warum hat sie den nicht auch gleich klonen lassen?«

 

»Sie sind mir ja vielleicht ein Scherzbold, Kubak. Die Gesetze zum

Klonen von Lebewesen sind im ganzen paneuropäischen Raum gleich.«

 

»Mag sein. Aber wenn ich Sie korrigieren darf, Clara: Das Wort paneuropäisch beinhaltet bereits, dass es der ganze europäische Raum ist.

Es ist also unnötig ...«

 

»Jajajaja.«

 

Lotty kicherte.

 

»Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen, Kubak.« Und als hätte Miss Chelsea den Zündschlüssel gedreht, ging ein sonores Rattern durch den Blue Glider. Das musste jener Teil des Motors sein, der mit Brennstoff betrieben wurde, überlegte Kubak. Schnell!, befahl er sich, geh ein paar technische Details durch! Konzentrier dich auf was anderes, nur nicht auf den Start! Leider fiel ihm nichts ein.

 

»Bitte schnallen Sie sich an! Bitte ...«

 

Er schloss die Augen.

 

Die Kräfte, die beim Start auf seinen Körper einwirkten, genügten jedoch, um ihm jedes Detail vor Augen zu führen. Die Beschleunigung. Der Verlust der Bodenhaftung. Der steile Anstieg. Es drückte ihn in den Sitz. Aber es war anders als bei seinem Flug von Karlsruhe nach London – es hörte nicht auf. Es hörte einfach nicht auf.

 

»Kommen Sie! Machen Sie die Augen auf, Kubak! Es ist fantastisch.« Lottys Stimme klang beruhigend. Sollte er wirklich ...? »Na, kommen Sie! Es ist nicht schlimm.«

 

Langsam traute sich Kubak. Erst nur ein wenig, dann weiter. Vor den Fenstern war nichts außer dem grauen Staub der Wolkenschleier. Mehrere Sekunden vergingen, bis sich der Blue Glider über die Wolkendecke hob. »Oh Gott, oh Gott!«

 

»Lassen Sie die Augen offen, Kubak. Das werden Sie so schnell kein zweites Mal erleben.« Kein zweites Mal. In Lottys Worten war etwas eigenartig Wahres, und mit einem Mal verfiel Kubak in ein freudiges Kichern, das er schon lange nicht mehr gehört hatte. Scheiß doch auf Leonard!, dachte er. Zum Teufel mit den anderen. Er flog in den Weltraum, verdammt, er flog ins All. »Sehen Sie«, flüsterte Lotty. »So ist es ganz aufregend, nicht wahr?«

 

Ja. Das war es. Und mit jedem Meter, den der Blue Glider sich vom Erdboden entfernte, wuchs in Kubak die Idee, seinen Job an den Nagel zu hängen. Etwas anderes zu machen, etwas ganz anderes.

 

Noch während er lächelnd darüber nachdachte, fiel ihm die Fliege auf, die kopfüber an der Fensterfront klebte und nach und nach auf ihn zukrabbelte. Als er sich nach ihr ausstreckte, um sie zu verscheuchen, regte sie sich nicht. Lotty ergriff seine erhobene Hand und drückte sie sachte zurück auf die Armlehne.

 

Der dunkle Fleck blieb. Er klebte im stahlblauen Himmel.

 

 


Teil 2

Die Mauern von Sartorius

Je höher der Blue Glider stieg, desto mehr verblasste das Himmelblau.Nach und nach blitzten Sterne am Firmament auf wie Wassertropfen,die auf Glasflaschen perlen.

 

Zuerst war die Fliege gewachsen, dann im eintretenden Schwarz des Alls verschwunden, und nun tauchte sie wieder auf, ein heller Fleck, auf den der Blue Glider zusteuerte. Der schale Gedanke, weit über der Erde in einem kleinen Flugzeug zu sitzen, war über Kubaks Arme durch die Fingerspitzen Lottys bis in ihr Gesicht gewandert, wo sie ihn in ein begeistertes Lächeln verwandelte. »Das ist es«, stammelte sie.

 

»Das Orbit Hotel.«

 

Kubak wusste nicht, wie er auf die Idee gekommen war, dass es aussehen würde wie ein normales Hotel, mit dem Namen in Leuchtbuchstaben an der Front, einem Wintergarten mit Brasserie, einer Tiefgarage und Balkonen vor jeder Suite. Er schüttelte den Kopf. Bei diesem grau glänzenden, mit Fenstern übersäten Klotz konnte er ja nicht einmal behaupten, zu erkennen, wo die Front war. Dabei hätte es im Internet bestimmt etliche Bilder gegeben. Kubak seufzte. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, völlig uninformiert auf die Reise zu gehen. Er befürchtete, dass ihn diese Leichtsinnigkeit nicht nur ein Mal teuer zu stehen käme.

 

Der Blue Glider drosselte die Geschwindigkeit und begann ein Wendemanöver, das Kubak erneut den Schweiß auf die Stirn treten ließ. Spätestens, als sich die gewaltige Erdkugel ins Bild schob, schloss Kubak die Augen, versuchte, gleichmäßig zu atmen und sich vorzustellen, dass er in einem Taxi säße – mit einem Taxifahrer, der nicht einparken konnte. Diese Illusion gelang ihm so gut, dass er die Augen erst wieder öffnete, als ihn Lotty in die Seite stieß, um ihm mitzuteilen, dass er doch mit aussteigen solle. Alle anderen Passagiere seien schon fort, und der Blue Glider, habe eine Durchsage verlautbart, mache sich in weniger als einer halben Stunde wieder auf den Rückweg.

 

So wenig das Orbit Hotel von außen einem Hotel geähnelt hatte, um so mehr glich es einem von innen. Rote Teppichböden, eine Rezeption mit Mahagonitresen, kuschelige Sitzecken, Vitrinen und sogar ein Geweih an der Wand erweckten in Kubak den Eindruck, in einem Hotel in der Eifel abgestiegen zu sein; lediglich der Erdball, der langsam am Fenster im hinteren Teil der Lobby vorbeizog, raubte ihm die Täuschung. Es klemmte ihm die Luft ab.

 

Während Miss Chelsea es sich in einer Sitzecke bereits bequem gemacht hatte, stellte sich Lotty an der Rezeption an. Nach und nach registrierten sich die Gäste; es ging nur langsam voran, da eine Registrierung eine Kopie des Ausweises, ein Foto und Fingerabdrücke benötigte. Madame Chapeau rebellierte – ganz die Diva, die Miss Chelsea beschrieben hatte – und hielt den gesamten Betrieb auf. Sie schien nicht zu verstehen, wieso ihre beiden geklonten Kater ebenfalls registriert werden mussten, und donnerte den jungen Rezeptionisten an, wollte den Geschäftsführer sprechen, bis sie sich dann doch den Vorgaben des Hotels fügte und ihre Kater Napoleon IX und X ablichten und eintragen ließ. Auf Pfotenabdrücke jedoch verzichtete der junge Mann.

 

Lotty und Kubak waren die letzten beiden, die sich registrierten. Nur mit ihrem zuckersüßen Lächeln gelang es Lotty, den Rezeptionisten zu überreden, Miss Chelsea ebenfalls   einzutragen, ohne dass diese sich aus der Sitzecke wuchten musste. Der Rezeptionist fotografierte Miss Chelsea aus der Ferne, erinnerte Lotty daran, dass Miss Chelsea ihren Ausweis und ihre Fingerabdrücken abzugeben habe, sobald sie sich dazu imstande fühle (spätestens jedoch an diesem Abend), schob Lotty zwei Plastikkarten über den Tresen und grinste, als wolle er ein Kind von ihr. Als Lotty sich jedoch abwandte und Kubak an die Rezeption trat, flachte sein Mundwinkel jäh ab; anscheinend besaß er einen Resetknopf, den er rechtzeitig zu drücken wusste.

 

»Konrad Kubak.« Der Rezeptionist tippte etwas in seinen Computer ein, dann noch ein zweites und drittes und viertes Mal. Ratloses Kopfschütteln. »Haben wir hier nicht, tut mir leid.«

 

»Doch. Konrad Kubak. K U B A K.«

 

Wieder tippte der junge Mann. »Sorry, nein.«

 

»Vielleicht haben Sie sich vertippt. Ich bin regulär angemeldet.«

 

»Lassen Sie mich mal sehen.« Der Rezeptionist tippte so schnell, dass Kubak sich überlegte, ihn als Schreibkraft anzuheuern. »Ah ja, hier. Es tut mir leid, wir haben Sie falsch geschrieben. Mit C. Aber dann ist ja alles klar. Hier, Ihre Karte, Mr Cubac.«

 

Kubak nahm die Plastikkarte entgegen. Conrad Cubac stand darauf. Room 237. Er hatte wohl gerade die englische Staatsbürgerschaft angenommen. Na, großartig!

 

»Meine Damen und Herren«, erscholl es aus dem hinteren Teil der Lobby, wo ein kleines Pult aufgebaut war. Lotty zog an Kubaks Ärmel: »Kommen Sie! Es geht los.«

 

»Meine Damen und Herren«, wiederholte ein junger Mann im weißen Anzug. Er hatte sich an das Pult gestellt und räusperte sich mehrere Male, bis das Geschnatter der Gäste verebbte. »Liebe Gäste, besonders unsere lieben Journalisten« – der Mann sprach Lehrbuchenglisch, wie auf den Lerncomputern der ersten Klasse – »ich freue mich, Sie alle hier im Orbit Hotel begrüßen zu dürfen. Sie gehören mit zu unseren ersten Gästen, weshalb ich Sie bitten möchte, potenzielle Ärgernisse und Fehlfunktionen zu verzeihen. Sollten Sie Beschwerden und Wünsche haben, wenden Sie sich bitte an unser Personal. Wir stehen Ihnen gerne zur Verfügung. Mich dürfen Sie Kilian nennen. Ich bin der Sprecher und der persönliche Assistent unseres geschätzten Dimitrios Barakis, der aus gesundheitlichen Gründen erst zum Festbankett heute Abend zu uns stoßen wird.«

 

»Was hat dieser Barakis denn?«, flüsterte Kubak Lotty ins Ohr. Sie drehte sich so rasch zu ihm um, dass sie beinahe gegen Kubaks ausladendes Kinn gestoßen wäre. »Werden Sie sehen«, entgegnete sie.

 

»Wahrscheinlich sind Sie alle mit dem Ablauf der kommenden Tage bestens vertraut«, fuhr Kilian fort (Kubak hustete), »doch möchte ich noch einmal kurz zusammenfassen, was auf uns zukommen wird. Nachdem sie Ihre Ihnen zugewiesenen Zimmer bezogen haben werden, werden die Journalisten unter Ihnen die Möglichkeit haben, erste Interviews mit unseren Künstlern zu führen. Dazu werden Sie in ihren Zimmern eine Liste mit sämtlichen achtundfünfzig anwesenden Künstlern samt ihrer Zimmernummer vorfinden. Haben Sie jedoch bitte Verständnis dafür, dass es außer Ihnen noch viele andere Journalisten in diesem  Hotel gibt. Geben Sie also auch ihren Konkurrenten die Möglichkeit auf ein Interview. Erste Bilder der Künstler können Sie überall in unserem Hotel finden. Die eigentliche Ausstellung freilich beginnt erst nach der Abendveranstaltung.

 

Das Bankett findet heute Abend um sieben p.m. statt. Achten Sie bitte darauf, dass die Uhren im Orbit Hotel – entsprechend dem Wohnort des Erbauers – nach Greenwich Mean Time gestellt sind, und versuchen Sie, ihren Lebensrhythmus allein nach der Uhrzeit zu richten. Wie Sie vielleicht wissen, ist das Orbit Hotel nicht geostationär. Die Geschwindigkeit, mit der es um die Erde kreist, entspricht etwa zwei Tagen, das heißt, in etwa achtundvierzig Stunden werden wir wieder in der derselben Position stehen wie im Moment. Dies führt mit sich, dass Tage wie Nächte doppelt so lange andauern wie auf der Erde. Weiterhin ist es so, dass das Orbit Hotel der Erde immer die gleiche Seite zuwendet; dementsprechend gibt es Zimmer mit konstantem Blick auf die Erde« – (die teuren Zimmer, dachte Kubak) – »und Zimmer mit konstantem Blick ins All. Die Zimmer mit Blick auf die Erde verfügen über Sonnenlampen, deren Lichtspektrum dem der Sonne gleicht, da – naturgemäß – die der Erde zugewandte Seite des Hotels prozentual weniger Sonnenlicht abbekommt als die Rückseite, was jedoch nicht bedeutet, dass es in diesen Zimmern dunkler ist, denn die passive Beleuchtung durch die Erde ist – das können Sie hier bereits sehen – nicht unbeträchtlich.«

 

Irgendwo gähnte jemand. »Falls Sie sich näher mit der Technik des Hotels auseinandersetzen möchten, stehen Ihnen allerhand Broschüren zur Verfügung, die Ihnen unsere Mitarbeiter gerne … ähm … zur Verfügung stellen.«

 

»Was ist mit Intertain?«, rief Miss Chelsea hinein. Ihre volle, auf den ersten Ton stechende Stimme, zog die Blicke der Gäste an.

 

»Steht Ihnen natürlich zur Verfügung, Ma'am. Wir befinden uns jedoch noch in der Ausbauphase dieser Funktion. Das Hotel empfängt Intertain zur Zeit über Satellit. Da diese jedoch geostationär sind und das Hotel nicht, gibt es Zeiten, in denen wir uns in der Reichweite keines der verfügbaren Satelliten befinden. Genaue Uhrzeiten zu den Satellitenfenstern werden Sie auf Ihrem Zimmer finden.«

 

»Aha.« Miss Chelsea zuckte mit den Schultern.

 

»Gibt es noch weitere Fragen?« Niemand meldete sich zu Wort. »Gut. Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Aufenthalt im Orbit Hotel. Die Rezeption, das Restaurant, die Sportbereiche sowie die Krankenstation sind rund um die Uhr für Sie geöffnet.« Damit deutete Kilian eine Verbeugung an und verließ das Foyer.

 

Die Gäste trotteten los. »Ich geh schon mal vor, Lotty, ja?« Miss Chelsea stemmte sich aus ihrem Sessel, riss Lotty eine der beiden Plastikkarten aus der Hand und watschelte davon.

 

»Natürlich, Clara, natürlich.« Lotty entwich ein Seufzer, der nicht aufzuhören schien. Kubak sah ein paar Sekunden belustigt dabei zu, wie Lotty sich mit dem Gepäck abmühte; dann fasste er sich ein Herz, nahm ihr die schweren Koffer ab und grinste: »Wohin?«

 

Als Lotty endlich die Schlüsselkarte durch den Leser der Suite 201 zog und die Tür aufsprang, stand Kubak der Schweiß auf der Stirn. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn das Orbit Hotel unter der Last von Miss Chelseas Koffer abgestürzt wäre. »Stellen Sie sie doch einfach hier hin, Kubak, wären Sie so nett? Da – neben das Bett.«

 

»Aber natürlich, Lotty«, keuchte Kubak. Mit einem letzten Ruck wuchtete er die Koffer an die richtige Stelle und stürzte kopfüber hinein, als hätte jemand die Schwerkraft von Erde auf Jupiter gestellt. Nur mühsam rappelte er sich wieder auf und taumelte herum wie ein Betrunkener.

 

»Lieber Himmel, Kubak, ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

 

»Ich? Ja ja. Ich bin heute nur etwas schwach auf der Brust. Es war ein anstrengender Morgen.«

 

»Wem sagen Sie das, Kubak! Kommen Sie, setzen Sie sich.« So behutsam, als wolle sie sich auf ein Nagelbrett setzen, ließ Lotty sich auf dem breiten Bett nieder und tätschelte die Stelle neben sich. Brav wie ein Hund setzte Kubak sich neben sie. Vor seinen Augen tanzten schwarze Sterne; wenn er blinzelte, stieben sie auf wie die Plastikflocken in einer geschüttelten Schneekugel. Als der Schwindel nachließ, sah er sich in der Suite um. Das große Panoramafenster zeigte die Erde: den Atlantik und den Hurrikan Atlas, der sich über dem Golf von Mexiko gebildet hatte und langsam auf die Ostküste der USA zusteuerte.

 

Die schwarzen Sterne kehrten zurück, und Kubak zwang sich, den Blick vom Fenster zu lösen, so einmalig die Aussicht auch war. Schau auf die Kirschholzkommoden, Kubak, knirschte er in Gedanken, oder auf das übergroße Bett mit der tiefen Kuhle in der Mitte, stell dir vor, wie Miss Chelsea vor ein paar Minuten mit einem eleganten Kopfsprung hineingekracht ist und die Umlaufbahn des Hotels abgelenkt hat, wie sie sich dann auf den Weg macht und bestimmt schon die ersten beiden Interviews einsackt und …

 

Lottys Lachen riss Kubak aus seinen Versuchen, die Erde zu ignorieren, lauthals, aus voller Kehle, sodass Kubak nicht anders konnte als mitzulachen, bevor er sich überhaupt fragen konnte, worüber. »Also ehrlich, Kubak« – Lotty versuchte krampfhaft, sich unter ihrem frenetischen Kichern verständlich zu machen – »Sie haben vielleicht Ideen. Das hätte ich gerne gesehen. Clara – einen Kopfsprung ins Bett.« Kubak verstummte jäh, als hätte Lotty sein Zwerchfell durchgeschnitten. Die Spitzen seiner Ohren glühten als erste, dann seine Wangen und schließlich sein ganzes Gesicht. Er konnte nur hoffen, dass das im kalten Schein der Energiesparlampen nicht auffiel.

 

»Was ist, Kubak?« Lotty beruhigte sich allmählich. »Sie sind ja ganz rot geworden.«

 

»I-Ich … ich hatte laut gedacht. War doch nur irgendein Blödsinn, der mir gerade eingefallen ist.«

 

»Blödsinn ist gut.«

 

»Hören Sie, Lotty.« Kubak versuchte, ernst zu klingen, doch er klang nicht ernster als damals, als Leonard ihn gefragt hatte, ob er ihn für einen fähigen Chef halte. »Das muss Clara ja nun wirklich nicht mitbekommen. Es ist mir nur so rausgerutscht.«

 

»Jetzt seien Sie doch nicht gleich so eingeklemmt, Kubak.«

 

»Verklemmt.«

 

»Seien Sie jedenfalls nicht so. Wie blöd müsste ich auch sein, um Clara das unter die Nase zu reiben?«

 

Auf einmal flammten vor Kubaks Augen zehn mögliche Antworten auf, die ihn alle vor die Tür befördert hätten. Er schüttelte den Kopf und wechselte ungeschickt das Thema: »Ich werde jetzt ein Interview führen gehen.« Kubak stand auf, räusperte sich, richtete sein Hemd und machte Anstalten zu gehen.

 

»Sie, äh, Kubak ...«

 

Er drehte sich zu Lotty um, die noch immer auf dem Bett saß und unentschlossen hin- und herblickte.

 

»Sie … entschuldigen Sie, wenn ich so offen bin und Clara in diesem Punkt widersprechen muss, aber Sie machen mir nicht den Eindruck, als wären Sie ...« Noch bevor Kubak den Mund öffnen konnte, setzte Lotty hinterher: »Aber das ist ja auch gar nicht schlimm, wissen Sie? Ich dachte nur, wenn sie ein bisschen Hilfe … also, Sie könnten ja mich und Clara begleiten.«

 

Kubak stockte. Er bekam Lust, Lotty ins Gesicht zu schlagen. Er bekam Lust, hundert Interviews auf einmal zu führen. Er bekam Lust, sich ins Bett zu legen und ins All schießen zu lassen. »Nein, nicht nötig, Lotty«, brachte er heraus. »Ich habe nur meinen eigenen Stil, das ist alles. Bis später.« Er schloss die Tür hinter sich, etwas fester als beabsichtigt, und lehnte sich für einen Moment mit dem Rücken dagegen. Mit jedem Atemzug kämpfte er gegen die erwachende Resignation an. Du bist mir ja wirklich ein großartiger Kerl, Kubak. Resignierst, noch bevor es richtig angefangen hat. Du gehst jetzt sofort los, und bis zum

Bankett hast du zwölf Interviews aufgenommen und hundert gute Bilder geschossen. Verdammt, es muss bei so vielen Journalisten doch einen geben, der eine noch trübere Tasse war als er.

 

Auf dem Weg zurück zum Foyer verlief er sich zwei Mal.

 

 

Ein Blitz, ein Klick, und Robbies überstrahltes Gesicht leuchtete Kubak im Display seiner Kamera entgegen. »Das ist … das müssen wir noch einmal machen.« Robbies freundliches Lächeln hielt an, während Kubak ein paar Sekunden lang an seinem Fotoapparat herumbastelte und erneut den Auslöser drückte. Das zweite Bild war verwackelt und zu dunkel. »So … äh … so ist es gut. Danke Ihnen.« Kubak sah im Augenwinkel die verzerrten Zahnreihen seiner Konkurrenten. Irgendjemand hustete absichtlich.

 

Robbie, ein Mann um die fünfundvierzig Jahre, groß, schlank, mit Glatze, aber rauschendem rotem Bart, hieß eigentlich Rob Boss, doch das war, wie Lotty Kubak zugeflüstert hatte, ein Künstlername. Er stammte aus Exmoor, Devon, und ebenso langweilig waren seine Bilder, fand Kubak, denn Robbie vermischte realistische Naturmalerei mit abstrakter Kunst, verband also zwei Richtungen, für die Kubak sich so sehr begeistern konnte wie für einen Fallschirmsprung. Dennoch, gestand Kubak, erfreute Robbie sich wohl einiger Beliebtheit.

 

Robbie wich ein paar Schritte zurück, als noch weitere Reporter in das Zimmer drängten, und stellte sich vor einem seiner Gemälde auf. »Das ist The Power Of Time, ein Bild, an dem ich über fünf Jahre gearbeitet habe. Die Zeit hat hier einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

 

Wo auf der rechten Seite die Sonne bereits die Farbpigmente des abgebildeten Hochmoors ausgebleicht hat, erstrahlt links die kubistische Kirche noch in vollem Farbglanz. Chronologie in einem Bild des Stillstands. « Wenigstens war Robbies Stimme ein Genuss, fand Kubak, im  Grenzbereich zwischen Bariton und Bass, ruhig, deutlich, angenehm. Er hätte ihm stundenlang zuhören können, wenn es nicht gerade um Kunst gegangen wäre.

 

Während Robbie ein weiteres Bild vorstellte, schälte sich Kubak aus der Masse und lehnte sich vor dem Zimmer an die Wand. Missmutig schüttelte er den Kopf. Er sah Lotty, die ihm von drinnen einen Blick zuwarf; der Blick sagte: »Komm rein und mach mit. Nur wenn du mitmachst, kannst du besser werden. Nur wenn ...« Aber da hatte Lotty sich auch wieder abgewandt, weil Miss Chelsea ihr Interview fortsetzte und Lottys tatkräftige Unterstützung forderte.

 

Kubak zückte einen Stift und hakte Rob Boss von seiner Liste ab. Noch siebenundfünfzig Künstler übrig. Er hatte unter den anderen Reportern so einiges aufgeschnappt und die wichtigsten Künstler mit einem Stern markiert. Da war zum Beispiel Helena Wagner, trotz ihres Namens eine Französin, die ihren Körper mit anamorphotischen Bildern bemalte und die Betrachter so dazu zwang, ihren – selbstverständlich nackten – Körper von allen Seiten zu betrachten. Abgehakt, dachte Kubak. Vermutlich müsste er stundenlang anstehen, um sie überhaupt nur zu Gesicht zu bekommen.

 

Oder Zak McPhearson, ein Schöngeist aus San Francisco. Er klebte Collagen aus Buchstaben und Zeichen, die er aus Zeitungen aller Sprachen der Welt ausschnitt und damit kulturkritische Themen collagierte. Ungewöhnlich für einen Künstler seiner Zunft, war er weltbekannt und bei Frauen und Mädchen so heiß begehrt wie ein Schauspieler. Seine Attribute: handsome, rich, single. Auch er, folgerte Kubak, dürfte heute nur schwer zu erreichen sein.

 

Oder auch dieser Oktober, von dem nicht mehr bekannt war, als dass er sich Oktober nannte. Er war der shooting star der Szene. Mit seinem noch unvollendeten Bilderzyklus »Die Geschichte des Kosmos« hatte er nicht nur Kritiker in aller Welt beeindruckt, sondern auch die Presse auf sich aufmerksam gemacht. Obwohl niemand wusste, wer Oktober wirklich war, war er ein Künstler, den auch die meisten Desinteressierten kannten – zumindest vom Namen her. Viele der Reporter hatten ihre Zweifel geäußert, ob Oktober überhaupt im Hotel residierte. Jedenfalls befand er sich nicht auf seinem Zimmer, obwohl sein Name auf der Liste stand. Diesen Oktober konnte Kubak als auch getrost vergessen.

 

Je länger Kubak auf die Liste starrte, desto sinnvoller erschien es ihm, mit den unbekannten Künstlern zu beginnen, vielleicht sogar mit denen, um die die Presse sonst einen großen Bogen machte. Er filterte also alle Namen aus der Liste, die er bereits irgendwo aufgeschnappt hatte. Zehn blieben übrig. Generell zeigte sich die Presse interessierter an männlichen Künstlern, womit sieben weitere Namen wegfielen. Und zuletzt: Künstler aus europäischen Ländern waren nach wie vor begehrtere Ziele. Ein Name blieb übrig: Lu Chang. Vielleicht eine Chinesin, dachte Kubak. Umso besser. Nach dem großen Aufschwung in den Zehnern und Zwanzigern hatte China wirtschaftliche und politische Macht besessen, die niemandem aus der alten Welt wirklich willkommen gewesen war. Nach dem Nuclear Breakdown im Jahr 29 trug die erneuerbare Energie der europäischen Staaten jedoch einen späten und von vielen erwarteten oder wenigstens erhofften Sieg davon. Seit dem interessierte sich kaum noch jemand für die Supermacht von einst. Nicht für ihr Land, nicht für ihre Kultur – und erst recht nicht für ihre Künstler.

 

Wie gehofft, war die Tür zu Zimmer 111, Lu Changs Zimmer, von keinem einzigen Reporter belagert. Seine Chance! Kubak holte tief Luft und klopfte. Als ihm niemand antwortete, stieß er die Tür sacht an. Sie glitt widerstandslos auf, bis sie gegen einen Türstopper stieß.

 

Lu Changs Zimmer verstieß sicherlich gegen mehrere Sicherheitsrichtlinien. Überall flackerten Kerzen in verzierten Ständern, Räucherstäbchen glühten, braune, rote und graue Decken verwandelten den Raum in eine Art Höhle, und an den Wänden hingen oder standen Gemälde in allen Formen und Größen. Nur mit äußerster Vorsicht trat Kubak ein und manövrierte sich geschickt um die Kerzen herum.

 

Die Sonne stand nun so, dass sie direkt in das Zimmer hereinleuchtete, es regelrecht zum Glühen brachte und von der schmalen Figur, die auf dem Fenstersims saß, einen Schattenriss zeichnete. »Sind Sie … äh … Lu Chang?«, fragte Kubak so zögerlich und leise, als wolle er einen Priester während der Predigt fragen, wo die Toilette sei. Die Figur hob den Kopf. Kubak registrierte den starren Blick der Figur, obwohl er ihre Augen nicht sah. Sie sprach ein paar Worte, vermutlich chinesisch, und deutete mit der Handfläche neben sich. »Ich soll mich … neben Sie setzen? « Die Figur nickte.

 

Kubaks missmutige innere Stimme riet ihm, dass es besser sei, sich lieber bei der nackten Frau anzustellen als auch nur eine Sekunde länger in dieser Esoterikhölle zu verweilen. Doch der Raum hatte etwas, das ihn faszinierte. Es waren sicherlich nicht die billigen Deckchen und das Flackerlicht, und auch nicht die Bilder, in denen er nicht mehr sah als Flächen und Muster in Erdtönen. Nein, da war noch etwas anderes. Nun doch neugierig geworden, fasste sich Kubak ein Herz und schwang sich neben die Figur auf das Sims. Mehrmals wandte er den

Kopf zu ihr, wollte ihr Gesicht sehen, doch ihr starr in den Raum gerichteter Blick wirkte wie ein umgekehrt gepolter Magnet auf ihn, der seinen Kopf immer wieder von ihr wegdrehte.

 

Konzentriert betrachtete er jedes Gemälde, jedes Tuch, seinen Schatten und ihren Schatten, die das Sonnenlicht auf die gegenüberliegende Wand warf, und allmählich sah er es: Er sah die Zerstörung in den Bildern. Er sah Ruinen im Feuer, brennende Felder und Wolken, die glühten wie Hochöfen. Städte versanken im Feuersturm der Vulkane. Explosionen. Ein alles vernichtendes Inferno. Er sah es so plastisch vor sich wie ein Hologramm.

 

»Stellt das ein bestimmtes geschichtliches Ereignis dar?«, rutschte es Kubak heraus. Eigentlich hatte er nichts sagen wollen, im Glauben, dass Lu Chang ihn ohnehin nicht verstehen würde. Es war reines Interesse, weshalb er doch gefragt hatte. Die Figur drehte ruckartig den Kopf zu ihm, kippte ihn ein wenig zu Seite und brabbelte etwas auf Chinesisch. Dann schwang sie sich vom Sims hinab, schritt rückwärts in den Raum hinein und zeigte mit dem Finger auf Kubak. »Sie sehen es.« Kubak war erstaunt, englische, wenn auch gebrochen englische, Wörter aus dem Mund der jungen Frau zu vernehmen. »Sie sehen die Gewalt.«

 

»Wieso auch nicht?«, antwortete Kubak. Ihm fiel nichts Besseres ein.

 

»Sie haben es ja gemalt.«

 

»Die meisten sehen es nicht. Sie lassen sich keine Zeit.«

 

»Zeit habe ich genug.«

 

»Ich respektiere Sie.«

 

Nun wusste Kubak erst recht nicht mehr, was er sagen sollte. Deshalb schwieg er für einen Moment und betrachtete Lu Chang genau. Sie war noch jung, gerade einmal zwanzig vielleicht. Sie trug etwas Eigenartiges, irgendein Gemisch aus Ärmelrock, Schleifchen und gefalteten Servietten, etwas Traditionelles, dachte Kubak, aber vielleicht auch etwas aus der Herbstkollektion, da kannte er sich nicht gut genug aus. Jedenfalls verlieh es Lu Chang den Charme einer Geschenkverpackung. Ihr Gesicht war asiatisch genug, um vierzig Prozent der Reporter zu vergraulen, mit den Kanten an den falschen Stellen, zumindest für Europäer. Aber an sich nicht unansehnlich, dachte Kubak. Wenn er etwas jünger wäre, dann … ja, wieso nicht? Inzwischen hätte man sich ja wieder mit einer Chinesin sehen lassen können.

 

»Es ist keine genaue Geschichte«, fuhr Lu Chang fort. Kubak brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, was sie meinte. »Es ist die Geschichte in unserem Kopf. Diese Bilder sind das Fenster hinein. Aber die meisten sehen es nicht. Sie wollen es nicht.«

 

»Waren denn schon viele Reporter hier?«

 

»Nur drei. Sie haben kurz alles angesehen und Fotos gemacht. Aber dann sind sie gegangen und haben nichts gesagt.« Sie stellte sich neben eines ihrer Bilder. »Sie wollen auch Fotos machen?«

 

»Nein, nein, Miss Chang. Ich glaube, Fotos würden ihren Bildern nicht gerecht werden, ich meine, auf den Fotos könnte man die Bilder nicht wirklich sehen – so wie sie sind.«

 

»Sie haben Recht, Mr ...«

 

»Kubak. Konrad Kubak.«

 

»Ich höre, Sie kommen auch nicht aus England. Aber Sie sprechen es gut.«

 

»Aus D...« Blitzschnell unterbrach sich Kubak selbst und erinnerte sich daran, dass die Energierevolution, die China schließlich den wirtschaftlichen Kopf gekostet hatte, vor allem deutschen Köpfen entsprungen war. »Aus Österreich«, korrigierte er sich. Gut! Vermutlich kannte Lu Chang Österreich gar nicht.

 

»Ich hätte nicht gedacht«, fuhr sie fort, »dass ein Mann wie Sie meine Bilder versteht.«

 

»Wieso ein Mann wie ich?«

 

Doch zur Antwort kam es nicht mehr, denn eben als Lu Chang ansetzen wollte zu sprechen, drang vom Flur her ein Poltern, Krachen und Rufen in die rote Höhle herein. Interessiert stürzten Lu Chang und Kubak nach draußen und blickten den Gang entlang. Kilian, eine Mitdreißigerin mit Kinderwagen und ein stattlicher junger Mann im Anzug standen vor Tür Nummer 112. Während der Mann im Anzug sich am Kopf kratzte, hämmerte Kilian energisch auf die Tür ein. »Hakari!«, rief er. »Hakari, machen Sie endlich auf!« Erst als er Lu Chang und Kubak bemerkte, zügelte er sich und klopfte dieses Mal verhalten gegen die Tür. »Ich bitte Sie, Hakari. Öffnen Sie uns!«

 

»Haben Sie denn keine zweite Schlüsselkarte?«, fragte der Mann.

 

»Natürlich, natürlich. Selene, wärst du so freundlich?«

 

Die Frau nickte und schob ihren Kinderwagen den Gang hinauf an Kubak und Lu Chang vorbei.

 

»Mr Haddon, ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung«, begann Kilian und platzte fast vor Höflichkeit. »Aber Sie müssen sich doch wirklich nicht mit unseren Problemchen herumschlagen. Wir werden uns darum kümmern.« Haddon. Der Name kam Kubak bekannt vor. Haddon war ein wichtiger Mann, wusste er, aber er konnte er ihn in kein bestimmtes Gebiet einordnen. »Ich kann nun mal keine Probleme sehen, ohne sie sofort lösen zu wollen. Ist eine Eigenart von mir. Und sicher nicht die schlechteste.«

 

»Gewiss nicht, Mr Haddon, gewiss nicht.«

 

»Geht die Tür nicht auf?«, rief Kubak.

 

»Es ist alles in Ordnung, Sir«, wich Kilian aus. Trotzdem schlenderte Kubak zu den beiden Männern. Lu Chang lief neben ihm her. Im kalten Licht der Gänge wirkte sie nicht halb so bemerkenswert wie in ihrer roten Höhle. Während sie auf Selene, die Frau mit dem Kinderwagen, warteten, blieb Kubaks Blick an einem verwaisten Plättchen hängen, das gegenüber der Tür mit der Nummer 112 an der Wand befestigt war:

 

Aybard Hakari

DIE MAUERN VON SARTORIUS

(Öl auf Leinwand, Januar 2039)

 

Kubak rieb sich das Kinn. »Ein widerlicher Kerl, dieser Hakari«, flüsterte Lu Chang. »Geht mir immer aus dem Weg. Nur weil ich aus China bin.«

 

»Was ist er denn? Hakari klingt ein bisschen japanisch.«

 

»Er ist Japaner, zumindest teilweise. Aber der andere Teil: Ich weiß

nicht.«

 

»Hier hängt kein Bild.«

 

»Das wundert mich. Ich bin mir sicher, gestern oder vorgestern war ein Bild da.«

 

Während Kubak weiter die Stirn runzelte und sich das Kinn massierte, kehrte Selene zurück. »Hier ist die Karte.«

 

»Danke, Selene. Wir kommen jetzt rein, Hakari.« Kilian zog die Schlüsselkarte über das Lesegerät; die Tür sprang auf. Haddon blickte Kilian neugierig über die Schulter in den Raum hinein. Kubak konnte nicht anders, als es ihm gleichzutun.

 

»Hakari? Hakari, sind Sie da?« Kilian und Haddon schritten in den Raum hinein, Selene verblieb draußen. Lu Chang wollte ebenfalls ein treten. Ein Reflex der Höflichkeit ließ Kubak sie an der Hand packen; er wollte sie zurückziehen. Doch es kam anders: Anstatt Lu Chang aufzuhalten, zog sie Kubak mit in den Raum hinein, und ehe er sichʼs versah, stand er bereits in Hakaris Raum und sog gespannt die Luft ein.

 

Hakari selbst befand sich nicht in seinem Zimmer, was vermutlich besser für ihn war, denn er hatte es regelrecht auseinandergenommen. Alles, was leicht war, lag auf dem Boden verstreut. Die Möbel hatte er umgekippt und teilweise zerstört, die Nachttischlampe offenbar gegen die Wand geworfen. Eine Schramme verunzierte die Tapete.

 

»Eine Unart, so etwas!«, zischte Kilian nun in einem englischen Dialekt, den Kubak kaum noch verstand. »Eine Unart!« Er holte Luft und fasste sich. »Das wird Konsequenzen haben.«

 

»Ist dieser Hakari ein Rockstar?«, fragte Haddon, offenbar mehr belustigt als schockiert. »Hier sieht's ja vielleicht aus.«

 

Kilian und Haddon schritten bedächtig durch den Raum. Unter ihnen knackten Holzsplitter und zerbrochenes Glas. Kubak wollte sich schon abwenden und gehen, als Lu Chang, deren Hand er noch immer fest im Griff hatte, ihm durch einen sachten Händedruck signalisierte, sie anzusehen. Sie wollte ihm etwas zeigen, nickte mit dem Kopf zu einer Stelle im Raum, einem ungestürzten Tisch. In dem ganzen Durcheinander war Kubak der rote Fleck an der Tischkante erst gar nicht aufgefallen, doch jetzt sah er ihn, sah nur noch ihn, egal, wohin er blickte.

 

In seiner Faszination bemerkte Kubak nicht, dass er noch immer Lu Changs Hand hielt. Sie wehrte sich nicht dagegen. 

 

Teil 3

Eine zerstörerische Seele

  

»Muss eine zerstörerische Seele sein, dieser Hakari«, murmelte Haddon und schüttelte den Kopf. »Das gehört sich einfach nicht.«

»Für diesen Schaden wird er aufkommen müssen.« Kilian rechnete anscheinend bereits einen Kostenvoranschlag durch. »Außerdem wird er von der Veranstaltung ausgeschlossen. Einen Vandalen können wir im Orbit Hotel nicht gebrauchen. Wir stellen ihn unter Arrest, und übermorgen schicken wir ihn mit dem Blue Glider zurück.«

»Mit Verlaub, Mr Kilian«, fiel Kubak ein. Er hatte sich von Lu Chang gelöst, trat einen Schritt auf Kilian zu und verschränkte die Arme. »Aber was unterstützt Sie in Ihrer Vermutung, dass Hakari selbst dafür verantwortlich sei? Könnte es nicht auch ein anderer gewesen sein? Mit dem er einen Streit hatte, zum Beispiel?«

»Einen Streit, oh ja.« Kilian rümpfte die Nase. »Das würde zu Hakari passen. Der ist auf Krawall gebürstet.« Mit jedem weiteren Satz klang Kilian noch eine Spur gereizter als zuvor.

Nun meldete sich Lu Chang zu Wort: »Mr Kilian. Ich möchte sagen, dass dort ein Blutspritzer ist. An der Tischkante.«

»An der ...« Kilian manövrierte sich durch das Gerümpel zu dem ungestürzten Tisch. »Tatsächlich. Da ist ... du meine Güte!« Kilian packte den Tisch mit beiden Händen und wuchtete ihn auf die Seite.

»Ach herrje!« Haddon fasste sich an den Mund, beugte sich nach vorne und kniff die Augen zusammen, als wolle er sichergehen, dass die rote Lache, die hinter dem Tisch zum Vorschein gekommen war, wirklich Blut war. Mit den Lippen formte er die Worte: »Das sieht nicht gut aus.«

Der cremefarbene Teppichboden hatte das Blut bereits zur Hälfte aufgesogen. Am Rand der Lache war es bereits eingetrocknet, in der Mitte glänzte es noch. Kilian sah auf, warf erst Haddon, dann Kubak, Lu

Chang und zuletzt Selene einen Blick zu, die misstrauisch vor der Tür wartete und, auf den Griff ihrers Kinderwagens gestützt, verstohlen in das Zimmer hineinblickte. »Ich ... ich rufe den Werkschutz. Das geht zu weit.« Kilian fummelte ein streichholzschachtelgroßes Gerät aus seinem Jackett und drückte darauf herum; es funktionierte anscheinend nicht so gut, wie er gehofft hatte. Vielleicht treffen seine Wurstfinger die Tasten nicht, dachte Kubak. Irgendwann piepte das Gerät drei Mal, und Kilian steckte es wieder ein. »So, und jetzt ... jetzt muss ich Sie bitten zu gehen. Der Werkschutz wird sich darum kümmern. Sie können wieder Ihrem Tagwerk nachgehen.« Er deutete eine Verneigung an. »Miss Chang, Mr Haddon, Mr ...«

»Kubak.«

»Mr Cubac. Es war sehr nett, dass Sie uns geholfen haben.« Wer’s glaubt, dachte Kubak. »Obwohl: Eine Frage habe ich doch«, begann Kubak. Kilians knirschender »Jetzt verschwinde schon«-Blick gefiel ihm. »Ja, Mr Cubac?«

»Aus welchem Grund waren Sie überhaupt erst hier? Gab es denn einen konkreten Anlass, diesen Hakari aufzusuchen?«

»Wie gesagt, Mr Cubac. Der Werkschutz wird sich darum kümmern. Machen Sie sich deshalb keine Sorgen.« Und damit fegte Kilian die drei Besucher nach draußen auf den Flur und schloss sich ein. »Nun gut«, begann Haddon und richtete seinen Anzug. »Anscheinend sind wir nicht erwünscht. Bis heute Abend, Miladies. Es war nett, ihre Bekanntschaft zu machen. Mr Cubac.« Als Haddon sich elegant abwandte, davonschritt und Selene und Lu Chang ihm lächelnd nachblickten, rang Kubak nach Worten, um zu beschreiben, wie falsch das Wort Milady aus dem Munde eines US-Amerikaners klang.

Dann schob Selene ihren Kinderwagen in eine Richtung davon, und Lu Chang drängte Kubak, mit ihr durch die Flure zu streifen. Bereits nach wenigen Minuten wusste Kubak nicht mehr, wo sie waren. Alle Flure sahen sich erstaunlich ähnlich.

»Du bist ein großartiger Reporter«, sagte Lu Chang. »Danke«, entgegnete Kubak verlegen und registrierte wohlwollend, dass sie ihn gerade geduzt hatte. Er schielte zu ihr hinüber und wünschte sich auf einmal, er hätte lieber den Mund gehalten, denn Lu Changs gekräuselte Lippen, das im Zaum gehaltene Schmunzeln, der Lachanfall, in den sie plötzlich ausbrach, als sie Kubak schnippisch auf die Schulter klopfte, erinnerten ihn daran, dass er den Sarkasmus spätestens dann hätte riechen müssen, als sie ihn ›großartig‹ genannt hatte. »Ich ... ich ... ach, Mist!«

»Also wirklich, Kubak.« Lu Chang lachte noch immer. »Du warst der erste Reporter vor Ort, und du hast dich einfach vor die Tür setzen lassen. Das ist komisch.«

»Hehe, ja.« Jetzt nicht verrückt machen lassen, Kubak. Tu so, als hättest du selbst nur einen Witz gemacht. Das merkt die doch nicht.

Doch noch bevor Kubak etwas zu seiner Verteidigung sagen konnte, hüpfte Lu Chang ein paar Schritte nach vorne. »He, Kubak, ich muss zurück in mein Zimmer. Vielleicht kommt jemand.«

»Ja, alles klar. Ich ...«

»Vielleicht sehen wir uns heute Abend. Zur Gala.« Kubak wusste nicht recht, ob dies eine Frage gewesen sein sollte. Deshalb nickte er nur. »Ich werde dich finden.« Und damit verschwand Lu Chang.

Es dauerte mehrere Minuten, bis Kubak sich nicht mehr wie ein Idiot vorkam, der ratlos in einem Flur stand.

 

Die nächsten zwei Stunden verbrachte Kubak damit, nach Aybard Hakari zu suchen, um ihn zu den Zuständen in seinem Zimmer zu befragen. Er dachte an die Blutlache. Es war eine ganze Menge Blut gewesen, nicht nur ein Schnitt in den Finger oder ein Schlag auf die Nase. Hakari musste schwer verletzt sein – Hakari oder auch ein anderer, vielleicht jemand, mit dem er einen Streit gehabt hatte; mit dem er sich geschlagen hatte. Also spazierte Kubak zu Hakaris Zimmer zurück. Es war abgesperrt. Er hörte, wie drinnen jemand Möbel rückte; irgendwann ging ein Staubsauger an. Die Putzkolonne wahrscheinlich, dachte er.

Kubak ließ den Blick den Flur entlang streifen. Wenn Hakari so schwer verletzt war, wie es die Blutlache andeutete, dann bestand für ihn kein Zweifel daran, dass es auch auf dem Flurboden Hinweise darauf geben musste. Im Umkreis von mehreren Metern suchte Kubak nach Blutspritzern, doch er fand nichts. Einzig ein kleiner Fetzen Papiers fiel ihm auf. Er lag an der Wand gegenüber der Zimmertür und stellte sich als ein Schnipsel der altmodischen elfenbeinfarbenen Tapete heraus, welche in dieser Etage des Hotels die ganze Wand zierte. Dieser Schnipsel, schlussfolgerte Kubak, war vermutlich von der Wand gefallen, als jemand Hakaris Bild Die Mauern von Sartorius entfernt hatte, und Kubak brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie jemand das Bild nicht nur abgenommen, sondern regelrecht von der Wand gerissen hatte. Ob dieses Bild etwas mit dem Verschwinden des Künstlers zu tun hatte?

Enttäuscht, keine Blutspuren gefunden zu haben, schlenderte Kubak weiter. Er suchte die Krankenstation auf, die auf den ersten Blick nichts zu wünschen übrig ließ. Sie war gepflegt und gut ausgestattet – ebenso wie das Mädchen, das hinter dem Tresen saß und gelangweilt in einem 

Magazin blätterte. Entschlossen trat Kubak an sie heran: »Ich wüsste gerne, ob Sie heute einen Mann mit einer blutenden Wunde aufgenommen haben. Er ist ein alter Freund von mir, und ...«

»Machen Sie sich keine Mühe, Mister«, entgegnete sie schnippisch. »Selbst wenn Mr Hakari hier wäre: Einem von der Presse würde ich das bestimmt nicht auf die Nase binden.«

Ein Husten ließ Kubak aufschrecken. Er drehte sich um und konnte sich nicht entscheiden, ob er erröten oder erbleichen sollte, als er Lotty auf einem der Stühle des Wartebereichs sitzen sah. Sie blickte ihn über ihr Sketchbook mit dieser »Gott, wie blöd«-Miene an, und ihr Gesicht hätte wahrscheinlich noch ganz andere Ausdrücke angenommen, wenn nicht in jenem Moment die Tür zu einem der Behandlungsräume aufgeflogen und Miss Chelsea herausgetreten wäre, im Schlepptau einen jungen Arzt, der aussah, als müsste er dringend Feierabend machen. »Danke, danke, junger Mann«, posaunte Miss Chelsea. Der Arzt bemühte sich redlich um ein professionelles Lächeln. »Sie wissen ja gar nicht, wie es ist, fortwährend an Migräne zu leiden. Gott sei Dank, dass ich Sie getroffen habe.«

»Gerne, gerne«, entgegnete der Arzt erschöpft. Er klopfte gegen den Türrahmen und hustete seiner Sprechstundenhilfe zu, die immer noch unbeeindruckt hinterm Tresen saß. »Luisa, ich mache Pause. Eine halbe Stunde. Nur dringende Fälle.« Das Mädchen nickte, und der Arzt drückte sich an Miss Chelsea und Kubak vorbei Richtung Ausgang. »Also, Kubak, falls Sie wegen Hakari hier sind«, begann Miss Chelsea und schwellte die Brust vor Stolz, »hier ist er nicht. Seltsam eigentlich. Bei so einer Verletzung. Na dann. Schätzchen, weiter geht’s.« Lotty verdrehte die Augen, packte ihr Sketchbook ein und folgte ihrer Chefin auf dem Fuße – jedoch nicht, ohne Kubak einen triumphierenden Blick 

zuzuwerfen.

Kubak hätte gerne geschwiegen und so getan, als hätte er all das vorausgeahnt, doch letztlich siegte seine Neugierde. »Das ist wahrlich beeindruckend, Clara«, begann er und tappste der wuchtigen Dame ebenso hinterher – aus der Krankenstation hinaus, den Flur entlang wie eine Entenfamilie am Innenstadtsee. »Und das, wo ich mir sicher war, dass Kilian sich alle Mühe geben würde, die Hakari-Sache unter Verschluss zu halten.«

»Nein, nein, Kubak, so brillant war das nicht. Die Nachricht von Hakaris ... also, von dieser Hakari-Geschichte, die verbreitet sich im Hotel gerade wie ein Lauffeuer. Fast alle reden darüber. Nur wenigen allerdings gelingt es, mehr herauszufinden. Und in dieser Hinsicht, Kubak, ja, in dieser Hinsicht muss ich Ihnen Recht geben: Das war beeindruckend von mir.«

»Großartig! Wissen Sie auch, wer die Nachricht verbreitet hat?« Das war eine berechtigte Frage, fand Kubak, denn nur wenige Leute hatten den Vorfall Hakari mitbekommen: Kilian, der leitende Assistent der ComCult, dieser Haddon, Selene samt Kind, Lu Chang und er selbst. Kilian würde nicht geplaudert haben; es war ihm ja bereits unangenehm gewesen, dass jemand mit ihm in Hakaris Zimmer gewesen war. Lu Chang war an dem Vorfall vermutlich nicht sonderlich interessiert. Dieser Haddon kam Kubak zu sehr als Strahlemann vor, als dass der überall ausplauderte, was er in Hakaris Zimmer gesehen hatte. Diese Selene wusste Kubak nicht einzuschätzen, und er selbst hatte niemandem etwas erzählt. Natürlich gab es da noch den Werkschutz und die Putzkolonne. Na gut, gestand Kubak sich ein. Eigentlich gab es genügend Leute, die es hätten weitererzählen können. Und sobald ein Gerücht einmal die Runde macht ...

»Also, ich habe sie von niemandem persönlich. Habe es aufgeschnappt – und noch so einiges mehr.«

»Über Hakari, meinen Sie?«

Lotty machte Anstalten, Miss Chelsea davon zu überzeugen, lieber nicht allzu viel ihres Wissens preiszugeben, doch die ließ sich nicht davon abhalten: »Dieser Aybard Hakari hat hier im Hotel anscheinend wenige Freunde. Er hat viele der Künstler belästigt. Mit Anrufen und Briefen. Schon seit Tagen.«

»Belästigt? Weshalb?«

»Wenn ich das wüsste, mein Lieber. Jedenfalls braucht es ihn nicht zu wundern, wenn irgendwann jemand in seinem Zimmer auftaucht und ihm die Leviten liest. Immerhin hat er aus seinem eigenen Zimmer angerufen, und das Hotel führt genau Buch über alle internen wie externen Telefonate.«

»Das hätte er sich doch denken können, oder nicht?«

»In der Tat. Aber nun gut: Er hat es ja geradezu darauf angelegt. Aber nun muss ich weiter, mein Lieber. Ich habe noch ein paar Interviews zu führen, und diese Hakari-Sache hat mich glatt zwanzig Minuten gekostet.«

»Eine Frage noch.«

»Ja?«

»Was können Sie mir über Haddon sagen?«

»Alfred Haddon?«

»Mann mit Anzug.«

»Also, ich bitte Sie, Kubak. Haddon ist einer der reichsten Männer der Welt. Der Erfinder der GalaxyCloud.«

»Das habe ich mal gehört.«

»Also, für solchen Kleinkram habe ich nun wirklich keine Zeit. Sie 

leben hinterm Mond, Kubak. Schauen Sie im Intertain nach, wenn es Sie interessiert.«

»Aber ...«

Auf einmal fiel Kubak zurück wie ein Auto, dem auf halber Strecke der Saft ausgeht, abgehängt von einem Vierzigtonner und einem rosa Motorrad. Er blieb am Rand liegen. Lotty warf ihm einen mitleidigen Blick zu, der sagte: »Du bist süß« und »Du bist unfähig« und »Du bist süß, weil du unfähig bist«. Sie verschwanden hinter einer Ecke.

Kubak stand ein paar Minuten ratlos da. Dann atmete er durch und streifte durch das Hotel. Er musste auftanken.

 

Als Kubak sich in der Blue Planet Bar direkt an die Panoramascheibe setzte und, den Kopf auf die Armbeuge gelegt, den Vereinigten Staaten dabei zusah, wie sie sich langsam wegdrehten, da wurde ihm klar, dass irgendetwas gewaltig schiefgelaufen war. Er fühlte sich matt und verspürte Lust, aus dem Fenster zu springen und wie eine altgediente Raumstation in Einzelteilen zur Erde zu stürzen.

»Was darf es sein, der Herr?« Ein Kellner im eleganten Livree war an Kubaks Tisch herangetreten. »Ein Bier vielleicht? Wir haben auch Deutsches.«

»Haben Sie Moninger?«

»Sehr wohl, der Herr.« Als der Kellner hinter den Tresen schritt und die Kühlschränke durchsuchte, sondierte Kubak zum ersten Mal die Bar. Nachdem Miss Chelsea und Lotty ihn abserviert hatten, war er einfach dem Piktogramm mit dem Cocktailglas gefolgt und hier in der Blue Planet Bar gelandet. Obwohl er das Gefühl von Höhe nicht ausstehen konnte, hatte das Panoramafenster ihn mit dem Ausblick auf die Erde sofort fasziniert.

Außer ihm befand sich nur ein einziger Gast in der Bar, ein Mann mittleren Alters, der in einer Ecke ein Bier trank. Kubak fragte sich, was ihn zu dieser ungelegenen Zeit hierhergeführt haben mochte. Noch ehe er zu einem Ergebnis kam, kehrte der Kellner zurück. »Ein frisches Moninger. Wohl bekomm’s.«

»Sir, wenn ich fragen darf: Woher wussten Sie, dass ich Deutscher bin? Sie hatten mich doch noch gar nicht sprechen hören.«

»Oh, verzeihen Sie meine Unhöflichkeit, Sir. Ich bin ein Liebhaber des deutschen Autorenfilms, müssen Sie wissen. Moderne Klassiker. Die Straße ins Jenseits, Im Griff der Kälte, Das Schweigen der toten Katze. Irgendwie erinnern Sie mich an diese Filme. Tut mir leid, Sir.«

»Nichts für Ungut. Ich sehe sie selbst gerne. Vielleicht liegen Sie gar nicht so falsch damit.«

»Dann bin ich erleichtert. Also noch einmal: Wohl bekomm’s, Sir.«

»Danke.«

Kubak trank aus der Flasche. Es schmeckte gut. Er merkte nicht, wie die Zeit verstrich und sich langsam der Pazifik ins Bild schob. Bald bestellt er noch ein Bier. Als es kam, setzte sich ihm der Mann gegenüber, der vorhin noch allein in der Ecke gesessen hatte. »Wenn ich mir den Kommentar erlauben darf: Sie sehen reichlich mitgenommen aus.« Kubak blickte auf. Der Mann wirkte ungepflegter als seine Sprache es vermuten ließ. Er sprach einen englischen Dialekt, vielleicht Richtung Cornwall, mutmaßte Kubak, doch er sprach ihn sauber und gewandt. Offenbar hatte er von Beruf her viel vor Menschen zu reden, zu präsentieren. Andererseits sah er abgehalftert aus, schlecht rasiert, die Haare mit Schaumfestiger in eine wahllose Position gebracht. Die Klamotten: irgendwas zwischen Freizeitmode und Altkleidersammlung. Kubak grinste. Vielleicht war er Lehrer.

»Gestatten. Harry. Harry DaBakia.«

»Kubak. Mit K, nicht mit C.«

»Aus Deutschland?«

»Korrekt.«

»Wieso sind Sie nicht bei den Interviews? Sie sind doch Reporter, oder liege ich da falsch?«

»Keine Lust. Ist doch sowieso alles Dreckszeug. Collagen aus Zeitungsschnipseln. So ein Schwachsinn.«

»Ich weiß, ich weiß. Zak McPhearson. Ein Aufschneider ist das.«

»Eher ein Ausschneider.« Harry lachte. »Sie kennen ihn, Harry?«

»Der tanzt doch immer durch die Illustrierten. Wäre er mal lieber Unterhosenmodel geblieben.«

»Unterhosen?«

»Das hat er früher gemacht. Dann hätte er uns wenigstens etliche Collagen mit seiner so genannten Kulturkritik erspart.« Harry lehnte sich entspannt zurück und winkte dem Kellner. »Wenn Sie mich fragen, Kubak: Jeder, der hier rumläuft und von sich behauptet, Kunst zu machen, ist ein Blender sondergleichen. Naturmalerei mit abstrakten Formen: alter Hut. Uh, ich bin ein lebendes Gemälde: uralt. Die Geschichte des Kosmos: langweilig. Jeder von denen macht Kunst für die Brieftasche.«

Kubak überlegte, ob dieser Harry angetrunken war. Wer wusste, wie lange er schon in der Blue Planet Bar saß und Bier trank? Andererseits bestellte er sich im Augenblick ein Mineralwasser, er nuschelte nicht und wusste seine Stimme noch so zu beherrschen, dass er nicht durch die Sätze stolperte.

»Und die Presse? Gleiches Pack! Sie nicht, Kubak, das sehe ich Ihnen an. Sie sind erst seit ein paar Stunden hier, aber Sie haben genug von dem Laden. Sie wären am liebsten gar nicht gekommen.«

»Mhm.« Mehr brachte er nicht heraus.

»Die Presse macht diesen ganzen Zauber mit, nein, sie inszeniert ihn sogar. Schreibt brillante Reportagen und Rezensionen. Wirft mit Begriffen um sich, die sie irgendwo abgeschrieben oder die die Künstler ihnen auf die Nase gebunden haben. Nein, nein. Dem müsste mal jemand Einhalt gebieten.«

»Sie?«

»Egal wer. Wieso nicht auch Sie? Sie sind ein Typ, der es den Leuten sagt, wenn er sie nicht leiden kann. Gerade lassen Sie den Kopfen hängen, ich weiß, aber das ist nur, weil dieses Pack Sie eingekreist hat. Die hätten doch alle nichts mehr zu bereden, sobald Sie mal loslegen. Richtig loslegen, meine ich.«

Kubak spielte mit einem Bierdeckel und blickte hinunter auf die Erde. Wieder kam das Gefühl in ihm hoch, es den anderen zu zeigen, um endlich wieder für sich selbst lachen zu können. Er wartete darauf, dass das Gefühl abschwoll und er sich ein weiteres Bier bestellte. Doch es geschah nicht.

Er sah zu Harry hinüber. Der setzte das Mineralwasser an und verharrte in der Bewegung. Perlen bildeten sich auf seinen Lippen, als er zur Erde hinabblickte. Da war etwas in seinen Augen – ein Brand. Der Erdball stand in Flammen, und Harry sah lächelnd dabei zu. Dann leerte er das Glas und schmetterte es auf den Tisch.

»Danke, Harry«, murmelte Kubak, als er aufstand und etwas Kleingeld auf den Tisch legte. »Sie haben mir weitergeholfen.«

»Habe ich? Wie das?«

»Leute wie Sie tun mir einfach gut, schätze ich.«

»Du schleppst mich aus meinem Zimmer und willst, dass ich von jemandem stehle?« Lu Chang war außer sich.

»Nein, ich stehle. Du lenkst Kilian nur ab. Ich will einen Blick in Hakaris Zimmer werfen und ...«

»... und dafür brauchst du die Karte, ich verstehe.«

»Bei dir war sowieso nichts los.«

»Ja, ja.«

Lu Chang tänzelte in ihrem feuerroten Gewand auffällig an den vornehmen Tischen des Restaurants Connection vorbei, in dem in wenigen Stunden die Gala stattfinden würde. Verhüllte Gemälde hingen an der Wand, und zwischen den gedeckten Tischen standen von Leinentüchern drapierte Gebilde, offenbar Installationen, die ebenso an diesem Abend enthüllt würden. Kilian saß allein an einem Tisch und ging Unterlagen durch. Er sah aus wie jemand, der mehr zu erledigen hatte als ihm Zeit dafür gegeben war. Als er Lu Chang auf sich zukommen sah, lächelte er sie müde an. Wild mit den Armen wedelnd sprach sie ihm etwas zu, und Kilian, dem eine Abwechslung trotz aller Arbeit offenbar nicht ungelegen kam, erhob sich und folgte Lu Chang aus dem Restaurant. Kubak indes bemühte sich, so unauffällig wie möglich hinter einer der Installationen zu stehen. Als Lu Chang und Kilian verschwunden waren, schlich er sich zu Kilians Platz und durchwühlte die Taschen dessen Jacketts. Seine Befürchtung, eine der Reinigungskräfte, die das Restaurant putzten, könnte ihn auffliegen lassen, war unbegründet; die arbeiteten penibel weiter, als wäre er gar nicht da. Bald nestelte Kubak die Karte mit Hakaris Zimmernummer heraus: 112. Grinsend stahl er sich davon.

 

 

»Das ist nicht richtig, Kubak.« Lu Chang stemmte die Arme in die Seite. »Wir sind keine Einbrecher.«

Kubak zog die Karte über das Lesegerät. Ein grünes Lämpchen leuchtete auf, es klackte. »Jetzt schon.« Kubak sah zu Lu Chang und grinste: »Danke. Gute Arbeit. Dafür geb ich dir einen grünen Tee aus oder so. Wir sehen uns heute Abend.«

Aus Sicherheit sah Kubak den Gang entlang; dann drückte er gegen die Tür und betrat Hakaris Zimmer. Die Putzkolonne hatte gute Arbeit geleistet. War der Raum noch vor weniger als drei Stunden das reinste Chaos gewesen, sah er nun so aus, als sei er noch nie bezogen worden. Das Bett war frisch hergerichtet, die zerstörten Möbel waren durch neue ersetzt worden, nicht exakt die gleichen Modelle, aber ähnliche. Die Schramme an der Wand war kunstvoll übermalt worden; man sah sie nur, wenn man wusste, dass es sie gab.

»Der Blutfleck ist weg.« Kubak erschrak, als er den warmen Hauch von Lu Changs Worten ganz dicht an seinem rechten Ohr spürte. Er fuhr herum und sah das Mädchen fragend an. »Ich habe die Karte besorgt, irgendwie«, sagte sie. »Nun will ich auch mitsuchen.«

»Von mir aus.« Kubak schritt in den Raum hinein und ging an der Stelle in die Hocke, wo der Blutfleck gewesen war. Nur noch ein schwacher Umriss deutete auf ihn hin, aber für einen Ahnungslosen hätte das auch von einer verschütteten Tasse Kakao stammen können. »Viel zu finden gibt es hier anscheinend nicht mehr.«

Während Lu Chang die Schränke und Kommoden durchsuchte, robbte Kubak über den Boden. »Hier ist was. Unter dem Bett.« Kubak streckte sich und zog einen Kugelschreiber hervor. »Ob der Hakari gehört?«

»Wahrscheinlich. Ich glaube nicht, dass hier vor Hakari schon einmal 

jemand wohnte.«

»Ja.« Kubak steckte den Kugelschreiber ein. Ein sonderlich guter Hinweis war das ja nicht, gestand er sich ein. Aber es war mehr als nichts.

»Sag: Der Fernseher war nicht zerstört?«

»Was? Ähm, nein, ich glaube, der war ganz, als wir vorhin hier waren. Wieso?«

»Lass uns sehen, was dieser Hakari für ein Programm gesehen hat.« Lu schaltete das Fernsehgerät ein. Es hatte Hotelzimmergröße, sah aber nach einem neuen Fabrikat aus; sicherlich keine Billigware. Nach wenigen Sekunden flammte das Bild auf, und Lu und Kubak waren versucht, den Fernseher sofort wieder abzuschalten, als das Bezahl-Erotikprogramm in voller Lautstärke durch das Zimmer stöhnte. Kubak hechtete an das Gerät und stellte auf stumm. »Also«, begann er, als er sich wieder gefasst hatte, »wenn wir davon ausgehen, dass das nicht die Standardeinstellung des Hotels ist, dann wissen wir, woran sich Hakari als letztes ... delektiert hat.«

»Ja, ich erinnere mich. Das schaltete er nachts ein. Ich glaube, das war vorgestern. Es stöhnte die ganze Zeit. Ich klopfte dann bei ihm.«

»Und?«

»Er machte die Tür auf und sagte, dass er schlecht hört und es muss so laut sein, weil er sonst nichts mitbekommt. Dann lud er mich ein, mitzusehen.«

Kubak grinste offen und schaltete den Fernseher wieder aus. »Und? Hast du?«

»Natürlich nicht. Ich rief die Rezeption an. Nach ein paar Minuten kam jemand. Dann stellte Hakari den Ton leise.«

»Ein eigenartiger Kerl.«

»Ein Widerling.«

»Du würdest nicht ...«

Ein bekanntes Klacken riss Lu und Kubak aus ihrem Gespräch. Die Tür flog auf, und mehrere bullige Typen stürmten in das Zimmer. Auf ihren Uniformen stand security. Als sie Lu und Kubak erblickten, blieben sie wie angewurzelt stehen.

»Hakari, jetzt sind Sie fällig!« Kilian betrat den Raum. Er schien in Rage zu sein und fuchtelte wie ein von Mücken Geplagter mit den Händen in der Luft herum. »Sie ... aber ... Miss Chang? Mr ... äh ... Cubac?«

»Kubak!«

»Na, das ist ja interessant. Was treiben Sie denn in Hakaris Zimmer? Und wie kommen Sie überhaupt ... Moment mal!« Kilian fummelte in seinem Jackett herum. »Aha! Deshalb haben Sie mich also gerufen, Miss Chang! Ich hätte bereits darauf kommen sollen, als ich sah, dass mit Ihrer Türe alles in Ordnung war. Cubac! Das ist doch auf Ihrem Mist gewachsen, oder?«

»Äh, haben Sie Hakari inzwischen gefunden, Kilian?«

»Nun werden Sie nicht frech, Cubac! Sie beide kommen mit in den Aufsichtsraum.«

 

Kilian ließ nicht mit sich spaßen. Der Werkschutz brachte Lu Chang und Kubak in ein kleines, unansehnliches Zimmer, von dem etliche Gänge abzweigten. Anscheinend gab es hier alles, was eine kleine Polizeiwache benötigte: eine Ausnüchterungszelle, einen Überwachungsraum und sogar ein kleines Gefängnis mit mehreren Zellen. Logisch, dachte Kubak. Immerhin konnte es bis zu zwei Tage dauern, bis die Polizei das Hotel erreichte und jemand zur Erde abtransportiert werden 

konnte. Es musste also für Fälle gesorgt werden, in denen sich Gäste ins Koma tranken, Randale machten oder eine Bedrohung für ihre Umwelt darstellten. Also vielleicht für so jemanden wie Aybard Hakari. Komisch nur, dass nicht Hakari, sondern Lu und ich hier sitzen, dachte Kubak.

Er hatte gehofft, Kilian würde ihn mit dem nächsten Flug zurück zur Erde schicken, und Kubak gestand sich ein, dass ihm diese Lösung am besten gefallen hätte, obwohl das bedeutet hätte, dass Lu wahrscheinlich ebenfalls zurückgeschickt worden wäre. Doch es kam anders. Kilian verwarnte die beiden lediglich; für Kubak brachte er sogar Verständnis auf, denn der sei Reporter, und als solcher sei es ja gerade seine Aufgabe, solchen Dingen nachzuspüren, auch wenn dies – so betonte er mehrmals – nicht rechtfertige, eine junge Künstlerin zum Diebstahl anzustiften. Darauf fielen Kubak mehrere Repliken ein, die er sich jedoch allesamt verkniff. Er beteuerte vor Kilian, er werde sich zusammenreißen. Der nickte nur abfällig und entließ die beiden.

Als Kubak sich zwischen Tür und Angel noch einmal umwandte, sah er, wie Kilian seufzte, die Hände über dem Kopf zusammenschlug und immer wieder mit der Stirn gegen die Tischplatte stieß.

 

Irgendwie war es den Veranstaltern gelungen, das Restaurant am Abend tatsächlich so aussehen zu lassen, als wäre es Abend, obwohl der erleuchtete Erdball vor der Fensterfront schwebte. Doch man hatte etwas verändert, bemerkte Kubak, vielleicht einen Filter an dem Fenster angebracht, denn die Erde leuchtete schwächer als vorhin. Außerdem hatte sie einen gelblichen Ton angenommen. So etwa stellte Kubak sich den nuklearen Winter vor oder die Folgen eines Meteoriteneinschlags.

 

Das Restaurant war dicht besetzt, nur wenige Stühle waren noch frei. Kubak saß hinten; ein sonderlich großes Interesse an der Veranstaltung hatte er ohnehin nicht. Lu Chang hatte sich neben ihn gesetzt. Sie war von seinen Tischnachbarn noch die erträglichste. Er hatte sich anscheinend einen Pressetisch der untersten Schublade herausgesucht. Ständig hörte er Wörter wie Ästhetik, Diskurs und Impression. Lu Chang amüsierte sich darüber, dass Kubak sich darüber nicht amüsieren konnte.

Kubak hielt nach Miss Chelsea und Lotty Ausschau. Natürlich entdeckte er sie an einem Tisch weit vorne. Als Lotty Kubak sah, lächelte sie, aber im Dämmerlicht hätte das Lächeln alles bedeuten können: von »Komm doch her!« bis »Du Idiot!«.

Dann begann die Gala. Zuerst trat Kilian auf und schwang eine Rede, elegant formuliert, pompös und inhaltlich ohne Bedeutung. Kubak war ein paar Male eingenickt. Lu trat ihn so heftig gegen das Schienbein, dass er laut aufschreckte und den Nachbartisch auf sich aufmerksam machte. Aus Vorsicht bestellte er sich zwei Kaffee, doch auch das vertrieb seine Müdigkeit nicht. Erst als Kilian endete und den Veranstalter ankündigte, Dimitrios Barakis, den Engländer mit dem griechisch klingenden Namen, war seine Aufmerksamkeit wieder geweckt.

Erst toste Applaus, dann sogen alle gespannt die Luft ein. Kubak erinnerte sich daran, dass es hieß, Barakis habe sichtbare gesundheitliche Probleme. Lotty hatte am Morgen so etwas angedeutet. Als Barakis endlich kam, schluckte Kubak. Zuerst hatte er nur ein unschuldiges Surren gehört und versucht, über die Köpfe der Gäste hinweg etwas zu sehen. Dann hatte sich der Rollstuhl ins Bild geschoben, ein gewaltiges Gerät, das trotz robuster Bauart unter dem Gewicht des Veranstalters ächzte. Barakis war ein Koloss von sicherlich vierhundert Kilogramm. Sein Körper war eine von einem riesigen T-Shirt bedeckte fleischig

 

Masse, aus der Arme und Beine wie Stecknadeln hervorstachen. Als Kilian dem Riesen ein Mikrofon in die Hand drückte, die – im Gegensatz zum Rest des Körpers – geradezu schmächtig, ja, normal aussah, keuchte Barakis unter der Anstrengung. »Meine Gäste.« Seine Stimme war hoch, rau, angestrengt und anstrengend. Barakis presste jedes Wort heraus. »Ich bedanke mich dafür, dass Sie hier sind. Ich wünsche Ihnen schöne Tage im Orbit Hotel. Wir beginnen die Ausstellung ComCult mit einem Gedicht. Applaus bitte.«

Die Gäste applaudierten, Barakis steuerte seinen Rollstuhl an den Rand des Saals und kam neben Selene und dem Kinderwagen zum Stehen. Die Reporter konnten die Augen nicht von dem Koloss lassen. Sie fotografierten ihn wie ein seltenes Tier im Zoo. Kubak empfand Mitleid.

Der locker gekleidete junge Mann, der an das Rednerpult getreten war, musste mehrmals auffällig husten, um Aufmerksamkeit zu erregen. »Liebe Gäste«, begann er. Seine Stimme war bestenfalls unauffällig, schlechtestenfalls langweilig. »Ich freue mich, diesen Abend mit meinem Gedicht ›Auf einem dunklen Stern‹ eröffnen zu dürfen.« Er räusperte sich. Bevor er begann, verschob er sekundenlang mehrere Blätter Papier, die auf dem Pult lagen.

 

Auf einem dunklen Stern

geboren, schreit das Kind

zum ersten Mal.

Unter dem bunten Mond

greift es nach Väterhänden,

greift ins Leere.

Es lächelt

im Bann der Schwerkraft,

es winkt

nach seinem blinden Bruder.

Auf einem dunklen Stern

lacht das Kind

zum letzten Mal.

 

Die Menge klopfte verhalten auf die Tische, wie um zu zeigen, dass tosender Applaus diesem Gedicht unangemessen wäre. Der junge Mann verneigte sich höflich und verstand. Geknickt schritt er von der Bühne und setzte sich an einen der Tische. Armer Kerl, dachte Kubak. Er selbst hätte vor so vielen hochkarätigen Künstlern und wichtigen Pressevertretern auch Lampenfieber bekommen, nein, er hätte es sich gar nicht erst getraut, ein eigenes Gedicht vor Publikum vorzutragen. Allein deshalb gebührte dem Autor Respekt, dachte Kubak, zumal dieser nicht älter war als zwanzig Jahre. Außerdem: Wer mochte schon im Weltraum Gedichte hören, wenn er stattdessen bemalte Leinwände und Collagen betrachten konnte? »Pff«, machte Kubak. Er jedenfalls hatte seinen Lieblingskünstler nun gefunden.

Kilian war erneut an das Pult getreten. Er bedankte sich im Namen aller bei Dimitrios Barakis dafür, dass er die ComCult an einem so einzigartigen Platz wie dem Orbit Hotel möglich gemacht hatte, und eröffnete die Ausstellung. Die Künstler indes waren aufgestanden und zu den verhüllten Kunstwerken geschritten. Als der Applaus begann, rissen sie die Tücher herunter, und die Presse fiel über die Bilder und Installationen her wie Möwen über Essensreste auf der Strandpromenade. Überall blitzten Fotoapparate, grinsten Künstler, schnatterten Reporter: ein Geräuschpegel wie in einer Wellensittichvoliere.

Irgendwo im hinteren Teil des Restaurants hingen zwei Bilder, die noch immer verhüllt waren. Hakari, dachte Kubak; vermutlich war er nicht mehr aufgetaucht. Sonst hätte Kilian bereits Alarm geschlagen und den Werkschutz gerufen. Doch der lief seelenruhig durch die Menge und plauderte – immer charmant lächelnd – mal mit diesem, mal mit jenem Künstler. Nur ab und zu ließ er seinen Blick schweifen, als ob er jemanden beobachtete.

Kubak hielt nach Lu Chang Ausschau. Vielleicht sollte er zu ihr gehen und den Reportern, die bei ihr stünden, blöde Fragen stellen. Gerade als er aufstehen wollte, bemerkte er jedoch, dass sie noch immer neben ihm saß. »Lu?«

»Kubak?«

»Willst du nicht zu deinem Bild gehen?«

»Ich will sehen, wie lange es dauert, bis sie es selbst aufdecken.«

»Da kannst du lange warten.«

»Wir werden sehen.«

»Weißt du, mir ist das hier zu laut. Ich geh in die Bar.«

»Bist du sicher, Kubak? Willst du nicht auch ein Interview machen?«

Kubak stand auf und machte Anstalten, davonzuschlendern. »Nein, nein«, antwortete er. »Das erledigen die Reporter.« Als er ging, meinte er, in Lus Gesicht eine leise Enttäuschung zu entdecken, einen gedankenschweren Blick ins Leere. Er konnte damit nichts anfangen und setzte seinen Weg fort.

Neben einem der Ausgänge lehnte der junge Autor, der das Gedicht vorgetragen hatte. Er starrte in die Menge, schien nicht recht zu wissen, was er tun sollte, hatte vermutlich kein Bild, das er zeigen konnte. »He«, begann Kubak und klopfte ihm auf die Schulter. »Weiter so! Das war gut.« Kubak lächelte, so gut er konnte; er war schlecht darin. Und 

doch heiterte sich die Miene des jungen Mannes auf. »Ja?«, entgegnete er. »Möchten Sie ein Exemplar meines Gedichtbandes haben? Ich verschenke sie.«

»Aber klar doch.« Erst jetzt fiel Kubak auf, dass die Jackentaschen des Jungen prall gefüllt waren. Er zog ein billig gebundenes Heftchen daraus hervor. Kein Umschlagmotiv; einfach nur schwarzer Text auf blauer Pappe: Teddy Sitch. Sacred Groves. »Danke.« Kubak steckte das Bändchen ein und verließ das Restaurant.

 

Es war weniger die Aussicht auf ein kühles Moninger, weshalb es Kubak in die Blue Planet Bar trieb, sondern vielmehr die Hoffnung, Harry DaBakia zu treffen. Als er ihn noch immer an denselbem Tisch vorfand, an dem er ihn vor Stunden verlassen hatte, fühlte sich Kubak irritiert wie auch erleichtert. Außer ihnen beiden und dem Kellner war die Bar menschenleer. »Harry!«, rief er.

»Hey, was ist? Keine Lust auf Kunst?«

»Nicht auf diese. Du scheinst hier aber auch festgewachsen zu sein, Harry. Was suchst du überhaupt im Weltraum?«

»Weißt du, zuerst dachte ich, eine Ausstellung im All wäre mit das Blödeste, was einem einfallen kann.«

»Das verstehe ich.«

»Aber inzwischen glaube ich, die Idee ist brillant. Nicht wegen der Aussicht oder der billigen Symbolik, nein, nein. Sie ist gut, weil sich hier kein Künstler verstecken kann. Niemand kann entkommen, sich hinter seine Agenten ducken oder heiklen Fragen ausweichen.«

»Das klingt so, als hättest du was vor.«

»Ja. Ja, habe ich. Aber nicht heute. Und kein Werkschutz der Welt wird mich aufhalten.«

 

»Werkschutz?«

In diesem Moment sprang die Tür zur Bar auf. Etwas Rotes flatterte herein; es war Lu Chang. Sie sah sich kurz um, entdeckte Kubak und lief zu ihm. »Da bist du«, rief sie. »Schlechte Nachrichten, Kubak. Als Kilian sah, dass du …« Sie stockte, als sie Harry bemerkte. »Hakari?« Kubaks Miene verzog sich. Als Harry, der von Lu Changs Auftreten nicht minder erstaunt war, aufsprang und dabei fast den Tisch umstieß, tat Kubak es ihm gleich.

»Ach nein, wie interessant.« Lottys Stimme überfiel Kubak. Er zuckte zusammen, als wäre er auf einen Nagel getreten. Die junge Reporterin schien sich – ohne ihre Chefin – aus dem Restaurant davongestohlen und sich an Lu Changs Fersen geheftet zu haben. Sie hielt ihren Kugelschreiber vor sich wie ein Mikrofon. »Sagen Sie, Herr Hakari, bevor der Werkschutz auftaucht: Welche Motivation hatten Sie dafür, die Künstler zu belästigen?«

Harry sah Kubak eindringlich an. Angst!, sagten seine Augen. Sie suchten nach einem Ausweg. Ohne zu zögern neigte sich Kubak nach vorne, als habe er unsicher gestanden und sei gestolpert. Als er Harry dabei anrempelte, flüsterte er ihm etwas ins Ohr. Harry überlegte kurz, dann nickte er. Er griff nach seinem vollen Bierglas, schleuderte es nach Lotty, die ihm gerade so auswich, rannte los, rempelte sie um und flüchtete aus der Bar.

Sekunden der Stille. Dann rappelte sich Lotty umständich auf stapfte auf Kubak zu. »So, Kubak, das müssen Sie mir erklären.« Sie klang ungehalten. Auch Lu Chang schien erbost zu sein. Doch Kubak beachtete beide nicht. Er dachte an Harry. Niemand kann entkommen, hatte er gesagt.

Die Ironie schmerzte ihn.

 

Teil 4

Masken

 

»Was hast du mit Hakari zu schaffen, Kubak?« Lu Chang stampfte mit dem Fuß auf. »Macht ihr gemeinsame Sache?«

»Und was hast du ihm da gerade zugeflüstert?«, fauchte Lotty und fuchtelte mit ihrem Kugelschreiber herum.

»Nichts«, rechtfertigte sich Kubak, wohl in dem Wissen, dass ihm das niemand glauben würde. Er änderte seine Taktik: »Ich hab ihm gesagt, dass er verschwinden soll.«

»Also steckt ihr unter einer Decke?«, bohrte Lotty. »Was plant ihr?«

»Gar nichts planen wir. Ich hab ihn doch heute erst ...«

Das Trampeln schwerer Schritte unterbrach ihn. Der Werkschutz stürmte die Bar, ein halbes Dutzend, Pistolen im Anschlag und auf Kubak, Lotty und Lu Chang gerichtet – die meisten jedoch auf Kubak. Knapp drei Meter vor ihnen blieben sie stehen. Kubak riss vor Schreck die Arme nach oben und verschränkte die Hände hinter dem Kopf – ein kaum merkliches Zucken in einem der Wachleute, ein leichtes Aufbäumen der Pistole, als hätte er einen unsichtbaren Schuss abgefeuert. »Sie sind festgenommen«, rief der Mann, trat auf Kubak zu, packte ihn mit einer Hand an der Schulter, drehte ihn um und drückte ihn auf eine Tischplatte. »Sie kommen mit uns. Wenn sie sich wehren, wenden wir Gewalt an.«

»Moment mal!«, rief Kubak. Mit dem Gesicht auf dem Tisch bekam er den Mund kaum auf. »Was wollen Sie überhaupt von mir?«

»Dass sie mitkommen.«

»Welch originelle Punchline.« Zum ersten Mal war Kubak froh, Miss Chelseas gewaltige Stimme zu hören. »Ich wusste gar nicht, dass auch Stand-Up-Comedians zu Gast sind in diesem reizenden Hotel.«

»Halten Sie sich heraus, Madam!«

»Nicht, wenn Sie einen Freund von mir derart behelligen.« Sie zückte 

ihren Fotoapparat und schoss ein Bild.

»Madam, ich muss Sie bitten, mir ihre Kamera auszuhändigen.«

»Unterstehen Sie sich!« Eine Pause der Ratlosigkeit und leeren Gesichter. Jeder überprüfte die möglichen Spielzüge. Miss Chelsea zog zuerst: »In Ordnung. Ich lösche das Bild, sehen Sie? Dafür lassen sie meinen Freund los und erklären uns ihr ungebührliches Verhalten. Welches Verbrechens macht Kubak sich denn schuldig?«

»Verschwörerisches Verhalten. Manipulation der Veranstaltung.«

»Ach, das.« Miss Chelsea winkte ab. »Ich denke, wir finden die Antworten auf ihre Fragen gemeinsam.«

»Wenn Sie etwas wissen, Madam, melden Sie sich später auf der Wache.«

»Ich habe eine bessere Idee. Ich begleite Sie dorthin. Lotty, kommst du? Und lassen Sie Kubak nun endlich los!«

Der Wachmann zog Kubak in aufrechte Position. Kubak konnte in dem Gesicht des Mittvierzigers erkennen, wie der mit der Frage rang, ob er es sich als Stellvertreter des Werkschutzes leisten konnte, vor der Presse in die Knie zu gehen. Die Tatsache, dass er überhaupt zögerte, bestärkte Kubak in der Vermutung, dass der Werkschutz sich seiner Sache nicht allzu sicher war. »Nun gut. Mr Cubac, Sie kommen mit. Und Sie, Mrs ...«

»Miss Chelsea.«

»Sie kommen auch mit.«

»Meine Assistentin ebenfalls. Song Jeong-min-Pinkerton.«

»Meinetwegen, Miss Pinkerton. Wenn Sie etwas beizutragen haben ...«

»Und Sie, Schätzchen«, wandte sich Miss Chelsea an Lu Chang, »Sie gehen lieber zurück zur Gala. Man möchte bestimmt auch Ihre Bilder 

begutachten.«

Lu Chang, die sich in den letzten Minuten kaum gerührt hatte, löste sich aus ihrer Erstarrung, nickte untergeben und schlich davon.

 

Auf dem Weg zur Wachstation bemerkte Kubak die Ausgelassenheit, die der Werkschutz an den Tag legte, sobald sie einem der Reporter begegneten – ganz so, als liefen Miss Chelsea, Lotty und er nur rein zufällig neben sechs bewaffneten Uniformierten her. Kubak grinste jedes Mal, wenn er hinter sich das verräterische Klicken von Kameras vernahm und der Wachleiter zusammenzuckte. Die Truppe schien erleichtert zu sein, als sie die Station erreichten.

Während sie sich durch die enge Türe drängten, rückte Lotty nah an Kubak heran, ergriff seine Hand, drückte sie und ließ sofort wieder los. Noch ehe Kubak sich überlegen konnte, was sie ihm damit hatte bedeuten wollen, zerrte der Wachleiter ihn in einen kleinen Aufenthaltsraum. »Setzen Sie sich, Mr Cubac. Kaffee?«

»Nein, danke.«

Als Kubak und der Wachleiter sich setzten, lächelte der über das ganze Gesicht wie ein Vertreter, der gerade das Geschäft seines Lebens machte. »Holligan. Walter Holligan.«

»Konrad Kubak. Aber das wissen Sie ja.«

»In der Tat, Mr Cubac.« Holligan sprach fein und ausgesucht – ganz anders als vorhin in der Bar. Wahrscheinlich gehörte das Changieren zwischen verschiedenen Tönen zur Grundausbildung eines guten Sicherheitsdienstes. »Erzählen Sie mir doch etwas über ... Teddy Sitch. Was haben Sie mit ihm zu tun?«

Teddy Sitch, der arme Poet? Wieso er? »Gar nichts. Ich habe ihn vorhin auf der Gala zum ersten Mal gesehen.«

»Und doch sahen wir, wie sie zu ihm gesprochen und etwas ausgetauscht haben, kurz bevor sie den Saal verließen.«

»Ach so. Ich habe ihm ein bisschen Mut zugesprochen. Der arme Kerl hat ja kaum Applaus bekommen. Dann hat er mir eines seiner Gedichtbändchen gegeben. Hier.« Kubak zog den Druck hervor und zeigte ihn Holligan. Der musterte den Gedichtband, blätterte ihn wie ein Daumenkino durch, runzelte die Stirn und gab Kubak das Heftchen zurück.

»So so. Dann die nächste Frage: In welcher Verbindung stehen Sie zu Aybard Hakari?«

Mist!, dachte Kubak. Jetzt kannst du dich nur in Schwierigkeiten bringen. Bis zu einem gewissen Punkt, rechnete er sich aus, konnte er bei der Wahrheit bleiben: »In keiner. Dachte ich jedenfalls. Der Vorfall heute Mittag hat meinen Reportergeist geweckt; da wusste ich jedoch gar nichts über ihn. Später lernte ich einen Mann in der Bar kennen. Er stellte sich mir als Harry DaBakia vor. Erst vorhin erfuhr ich, dass das derselbe Mann ist, der sich Hakari nennt.«

»Sind Sie miteinander ins Gespräch gekommen?«

Hier ehrlich bleiben; der Kellner war Zeuge des Gesprächs. Kann er auch Inhalte mitbekommen haben? Wahrscheinlich nicht; dafür war er zu weit entfernt. »Nur kurz. Er sagte mir, dass er sich nicht sonderlich für Kunst interessiert, und ich wunderte mich, wieso er dann überhaupt an dieser Veranstaltung teilnimmt.«

»Wieso gingen Sie während der Eröffnungsgala erneut in die Bar? Wollten Sie diesen Harry treffen?«

»Um ehrlich zu sein, ja. Ich persönlich interessiere mich auch nicht sonderlich für Kunst. Bin sozusagen hierhergezwungen worden. Ich sah in Harry einen Leidensgenossen. Er schien mir ohnehin recht nett zu 

sein.«

»War er dort, als Sie ankamen?«

Auch dies könnten mehrere Leute bezeugen: der Kellner, Lotty und Lu. »Ja.«

»Hat er sich Ihnen gegenüber nie als Aybard Hakari zu erkennen gegeben?«

»Nein.«

»Als wir in der Bar ankamen, war Hakari nicht anwesend. Sie selbst waren nicht allzu lange dort; keine Viertelstunde. Wieso verschwand Hakari?«

Heikel. Er verschwand, weil er Angst vor dem Werkschutz hatte. Außerdem hatte Kubak ihm in einem Anflug von Verständnis etwas zugeflüstert. Lotty wusste davon. Zwickmühle: Wenn sie dies dem Sicherheitsdienst meldete, Kubak jedoch nicht, machte er sich verdächtig. Wenn er es selbst erzählte, ebenso – denn warum sollte er einem fremden Mann, mit dem er nur ein wenig geplaudert hatte, etwas zuflüstern? Kubak hoffte, dass Lottys Händedruck ein Zeichen von Vertrauen gewesen war. »Lu Chang kam herein. Wahrscheinlich wollte sie zu mir. Wir hatten den Tag zusammen verbracht; sie kann mich anscheinend gut leiden. Sie ist die Zimmernachbarin von diesem Hakari und hat ihn erkannt. Ich schätze, Harry floh, da er aufgeflogen war.«

»Wissen Sie, wo er nun sein könnte?«

»Nein.«

Holligan atmete durch und massierte sein Kinn. »Gut, dann wäre es das«, sagte er schließlich.

»Und wieso verdächtigen Sie mich? Weil ich mit Teddy Sitch gesprochen habe? Was hat er denn verbrochen?«

»Warten Sie bitte draußen!« Holligan erhob sich und wies Kubak an, 

den Raum zu verlassen. »Setzen Sie sich neben Ihre Freunde.« Kubak nahm neben Lotty und Miss Chelsea in einer Sofaecke Platz, während Holligan mit seinen Mitarbeitern in einen Nebenraum verschwand und erst nach einer Viertelstunde wieder zurückkam. »In Ordnung.« Nun schien sein Lächeln beinahe freundlich. Doch ein letzter Rest verblieb, ein kleiner Riss in der Maske, hinter dem Kubak ein dunkles Gesicht sah, und dieser Rest war es, der schauerhafter war als das dunkle Gesicht selbst. Mit einem Mal fühlte er sich unwohl, nein, mehr noch; er fühlte sich bedroht. Der Gedanke, dass er vorhin mit Holligan allein in einem Raum gewesen war, erschien ihm plötzlich unerträglich. »Miss Chelsea, Miss Pinkerton, Mr Cubac: Bitte unterschreiben Sie hier!« Er legte ihnen je einen zweiseitigen Schrieb vor. »Damit erklären Sie, den gesamten Vorfall Hakari nicht weiterzuverwenden. Näheres steht auf den Bögen. Bevor Sie diesen nicht unterschreiben, kann ich Sie nicht gehen lassen.« Widerwillig setzten Miss Chelsea, Lotty und Kubak ihre Unterschriften unter die Erklärung.

»Gut. Dann können Sie gehen. Sollten Sie Mr Hakari begegnen, melden Sie sich umgehend bei uns.«

Alle drei nickten, erhoben sich und verließen die Wache. Kubak atmete erleichert auf. Anscheinend war alles gut gegangen.

Als sie in der zweiten Etage ankamen und Kubak Anstalten machte, sein Zimmer zu betreten, zerrte Lotty an seiner Jacke und schüttelte den Kopf. »Kommen Sie zu uns, Kubak. Wenigstens vorerst.« Lotty schien ernsthaft besorgt zu sein. Kubaks Erleichterung flaute ab. Anscheinend war er nicht der einzige gewesen, der den Riss wahrgenommen hatte.

 

»Ich weiß es nicht, Kubak«, begann Lotty. »Es ist nur ... dieser Typ, dieser Holligan ... und auch die anderen ... die ... ich weiß es nicht. Ich 

habe nur das Gefühl, dass Sie in Ihrem Zimmer nicht gut aufgehoben sind.«

»Nun mal langsam, Lotty. Sie klingen schon so, wie ich denke; und das ist nicht gut.«

»Aber wirklich, Lotty«, fiel Miss Chelsea ein. Sie saß auf einem breiten Sofa und kritzelte etwas in ihr Notizbuch. Lotty saß vor der Panoramascheibe neben dem Schreibtisch. Sie hatte sich Kubak zugewandt, der auf der Bettkante saß. Nur ab und zu drehte sie sich zu ihrem Sketchbook um, zog ein paar Fenster über das Display und fummelte an einem Programm herum. »Wie kommst du denn auf so etwas? Wir haben doch vorhin alles klargestellt. Dieser Hakari ist ein Spinner, Teddy Sitch ein schlechter Dichter, und wir alle haben nichts mit irgendwelchen Vorkommnissen zu tun. Schon gar nicht Kubak.« Sie sagte das nicht so, als sei er zu gutmütig für eine groß angelegte Verschwörung.

»Das Wichtigste haben Sie gar nicht mitbekommen, Madam«, erklärte Lotty. »Als der Werkschutz in die Bar stürmte und uns mit Waffen bedrohte …«

»Ja?«

»Da war dieser eine Moment – als Kubak die Arme hob. Ich war mir sicher, dieser Holligan würde abdrücken.« Kubak erinnerte sich. Noch ein Gedanke, der unerträglich wurde. »Wirklich. Es sah so aus, als würde ihn allein die Anwesenheit von dieser Künstlerin und mir abhalten, das zu tun.«

»Aber wieso sollte er, Schätzchen?«

»Dann Teddy Sitch. Er hat ein schlechtes Gedicht vorgelesen. Na und? Es hängen auch eine Menge mieser Kunstwerke im Saal. Trotzdem wird nicht jeder gleich verdächtig, wenn er mit den Künstlern spricht. Ich habe Sitch auf der Wache gesehen. Er saß in einem der anderen 

Räume. Wieso? Kubak, Sie haben selbst gesagt, dass Sie ihn für unverdächtig halten.«

»Ja, das stimmt schon, aber ...«

»Und dann Hakari. Ist Ihnen beiden nicht aufgefallen, dass Holligan immer von Hakari gesprochen hat, obwohl Kubak ihm bereits seinen richtigen Namen genannt hat?«

»Moment mal«, meldete sich Kubak. »Ich sagte ihm nur, dass er sich mir als Harry DaBakia vorgestellt hat.«

»Was sein echter Name ist. Ich gebe zu, erkannt hätte ich ihn nicht. Aber als Sie uns eben von Harry erzählt haben, da fiel es mir wieder ein.«

»Was?«

»Harry DaBakia ist kein Unbekannter. Er ist selbst eine Art Künstler. Er reist um die ganze Welt und sprengt alle möglichen Veranstaltungen, indem er hinter der Glitzerwelt des Kommerz den Schmutz ans Licht bringt. Das ist sein Ziel. Man munkelte, dass DaBakia auch bei der ComCult auftauchen könnte, was ihm ja schließlich auch gelungen ist. Ich bin mir sicher, dieser Holligan wusste genau, wer DaBakia ist. Trotzdem tut er vor uns so, als wüssten wir es nicht.«

»Mag ja alles sein, Lotty«, wandte Miss Chelsea ein. »Aber Kubak erschießen? Geht da nicht die Fantasie mit dir durch?«

»Vielleicht. Aber egal, wie oft ich es mir überlege: Ich habe das Gefühl, dass dieser Holligan Kubak am liebsten tot sehen würde. Irgendwas haben Sie losgetreten, Kubak.«

»Aber was denn?«

Sie schwiegen für mehrere Minuten. »Es ist auf jeden Fall besser, Sie bleiben bei uns.«

Kubak war überfordert. Dass sich Lotty um ihn sorgte, rührte ihn 

zwar, doch jedes »Danke«, dass er in Gedanken formte, klang wie »Harry«. »Wenn Sie Recht haben«, begann er, »dann ist Harry ebenfalls in Gefahr. Wahrscheinlich versteckt er sich irgendwo im Hotel. In sein Zimmer zurückgehen kann er ja nicht, ohne dass gleich der Werkschutz vor der Tür steht.«

»Was geht Sie das überhaupt an, Kubak?«, fragte Lotty. »Harry hat sich in den Kopf gesetzt, die ComCult zu sabotieren. Selbst wenn ich Ihre Abneigung Kunst gegenüber nachvollziehen könnte: Wieso sollten wir uns mit so einem einlassen? Der weiß schon, welcher Gefahr er sich aussetzt.«

»Es ist offensichtlich nicht so gelaufen, wie er das geplant hat.«

»Ach? Was hat er denn geplant?«

»Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass. Er hat mir nichts erzählt.«

»Dann lassen Sie ihn!«

»Ich fühle mich verantwortlich.« Wieder Schweigen. »Ich sollte wenigstens versuchen, ihn zu finden.«

»Und wenn Sie ihn finden?«

»Verstecke ich ihn, bis der Blue Glider wieder andockt, und fliege mit ihm zurück.«

»Das sind anderthalb Tage, Kubak. So lange verstecken Sie hier niemanden, ohne dass es auffällt.«

»Egal.« Kubak schritt zur Tür und wollte gehen. Als er die Klinke drückte, schoss ihm ein Bild durch den Kopf – wie die Tür aufschwang, er auf den Flur trat, wie ein Schuss aus der Dunkelheit kam, er blutend zu Boden sank und im Sterben noch Lottys Schreie hörte. Er hielt inne und lächelte, wusste aber nicht, worüber – dass diese Szene theatralischer Blödsinn war, oder dass er glaubte, ihm könne das wirklich zustoßen. Zögerlich wandte er sich zu Lotty und Miss Chelsea um. Diese 

hatte sich bereits aus dem Sessel erhoben und war dabei, sich einen Seidenschal um den Hals zu werfen. »Kommen Sie, Kubak«, tönte sie. »Ich begleite Sie. Lotty, haben Sie alles kopiert?« Lotty nickte und streckte ihrer Chefin den Kugelschreiber entgegen, mit dem sie in der Blue Planet Bar herumgefuchtelt hatte. »Danke, Schätzchen. Also los, Kubak. Wohin zuerst?«

 

Während Kubak noch überlegte, wo er überall nach Harry suchen sollte, hatte Miss Chelsea einen umfangreichen Schlachtplan ausgearbeitet; und dafür, dass sie überhaupt nicht daran zu glauben schien, was Lotty und Kubak fantasierten, gab sie sich erstaunlich viel Mühe, es in ihre Pläne mit einzubeziehen.

Ihre erste Station war Kubaks Zimmer. Es sah unbewohnt aus, was Kubak nicht verwunderte, denn er hatte sich seit dem Morgen nur ein paar Minuten dort aufgehalten. »Nehmen Sie ein bisschen Wäsche mit«, riet Miss Chelsea. »Aber nicht zu viel. Es soll nicht aussehen, als seien sie ausgezogen.« Kubak folgte dem Rat und stopfte Unterwäsche, ein T-Shirt und eine Jeans in eine Leinentasche. Währenddessen musterte Miss Chelsea den Raum und schien sich darüber zu freuen, eine Suite mit Blick auf die Erde zugewiesen bekommen zu haben. Nach zwei Minuten zog sie Lottys Kugelschreiber hervor, drückte darauf herum und legte ihn gerade so weit unter das Bett, dass man ihn im Schatten nicht mehr erkennen konnte. »Haben Sie alles?«

Als nächstes steuerten sie die Blue Planet Bar an. Ein kleines Schild wies die Hotelgäste darauf hin, dass die Bar wegen Wartungsarbeiten vorübergehend geschlossen hatte. »Interessant«, murmelte Miss Chelsea. »Vielleicht hatten Sie beide doch nicht so Unrecht, Kubak. Kommen Sie. Wir wollen sehen, was auf der Gala los ist.«

Die Gesellschaft im großen Restaurant hatte sich noch lange nicht aufgelöst; aus dem Trubel an Künstlern und Reportern waren jedoch wenige Trauben geworden, die sich um bestimmte Installationen und Gemälde versammelt hatten. Miss Chelsea flankierte die einzelnen Ansammlungen und sog jeden Satz, der aus dem Gewühl zu ihr drang, geradezu ein. »Anscheinend haben Sie für gewisse Aufregung gesorgt, Kubak«, flüsterte sie, als sie wieder etwas abseits standen. »Ich habe ein paar Dinge aufgeschnappt. Anscheinend ist manchen hier zu Ohren gekommen, dass der Werkschutz aktiv geworden sei. Der Name Hakari fiel. Auch Ihren Namen habe ich gehört. Wenn die Presse morgen ihre Fühler in unsere Richtung ausstreckt, wird die Sache vielleicht publik.«

»Wäre doch gar nicht schlecht, oder?«

»Für die Regenbogenpresse wäre es ein gefundenes Fressen. Der Werkschutz jedenfalls müsste sich in Acht nehmen. Die Yellow Press hat etwas gegen jede Form der Exekutive.«

»Dann sollten wir uns überlegen, die Presse einzuweihen.«

»Wir haben vorhin eine Erklärung unterschrieben.«

»Zur Not mache ich es alleine. Einen Ruf zu verlieren habe ich jedenfalls nicht mehr.«

Als Miss Chelsea und Kubak den Saal verließen, warf Kubak einen Blick zu Lu Changs Bereich. Ihre Bilder waren noch immer verhüllt.

 

Miss Chelsea und Kubak schlenderten noch eine Dreiviertelstunde lang durch die Gänge des Hotels. Von Harry entdeckten sie dabei – wie nicht anders erwartet – keine Spur.

Statt Harrys begegneten sie aber dem Barkeeper der Blue Planet Bar. Er lehnte sich über den Tresen der Rezeption, trommelte mit den Fingern und blickte ungehalten drein, während die junge Rezeptionistin 

etwas in ihren Computer tippte. »Llamar Harris. Mit Doppel-L. Zimmer 033. Das kann doch nicht so schwierig sein.«

»Es tut mir leid, Mr Harris. Ich bin mit dem System noch nicht vertraut. Das ist die erste Karte, die ich beschreiben muss. Sie sind eine Premiere sozusagen.«

»Großartig.«

Kubak ging auf ihn zu: »Schon Feierabend?«

»Ach, Sie sind es. Der Deutsche. Sie leben noch?«

»Bin gerade so davongekommen.«

»Ich dachte wirklich, jetzt geht eine Schießerei los. Ich weiß nicht mal, ob die Scheiben schusssicher sind. Wäre ja ein Spektakel, wenn nicht. Wird das jetzt mal was, Fräulein?«

»Ich glaube, ich habe es, Sir. Sie müssten hier noch den Erhalt der neuen Karte quittieren.«

»Natürlich.« Der Kellner unterschrieb und wandte sich wieder Kubak zu. »Na, jedenfalls wurde die Bar für heute geschlossen. Das verstehe, wer will. Zu allem Überfluss habe ich meine Schlüsselkarte verloren. Ich befürchtete schon, dass ich auf dem Flur übernachten muss, aber jetzt ist ja alles wieder in Ordnung.« Die Rezeptionistin schob ihm die neue Karte über den Tresen. Er nahm sie, nickte Kubak und Miss Chelsea zu und verschwand.

 

Miss Chelsea holte ihren Kugelschreiber aus Kubaks Zimmer. Beide kehrten in ihre Suite zurück, wo Lotty über ihrem Sketchbook saß und die Fotos des Tages bearbeitete. »Kurze Pause, Schätzchen«, tönte Miss Chelsea. »Gehen Sie doch mal bitte diese Aufnahme durch.«

Kubak runzelte die Stirn. »Der … der Kugelschreiber ist ein Mikrofon?«

»Aber natürlich, mein Lieber. Selbst so eine technophobe Reporterin wie ich kommt ohne so ein Teil gar nicht mehr aus. Er schreibt und nimmt Ton auf. Nicht die beste Qualität, ich gestehe, aber als Diktiergerät für unterwegs optimal.«

»Kubak, das gibt’s seit Jahren«, lächelte Lotty. »Obwohl sie sich bei Normalverbrauchern nicht durchgesetzt haben. Sie müssten das doch eigentlich kennen. – Aber um was für eine Aufnahme geht es denn?«

»Kubaks Zimmer«, erklärte Miss Chelsea. »Ich dachte daran, wie der Werkschutz Kubak und diese Chinesin erwischt hat, kurz nachdem sie Hakaris Schlüsselkarte verwendet hatten. Wenn auch nur eine Kleinigkeit an Ihren Fantasien dran ist, dann könnte diese Aufnahme ein Beweis sein. Oder wenigstens ein Hinweis.«

Lotty nickte. Irgendwie verband sie den Speicher des Kugelschreibers mit ihrem Sketchbook – Kubak verstand nicht, wie – und lud die Aufnahme in ein Programm zur Audiobearbeitung. Die Wellenform der Aufnahme erschien auf dem Bildschirm. Miss Chelsea und Kubak beugten sich über Lottys Rücken.

Zu Beginn der Aufnahme waren deutliche Ausschläge zu sehen, die von einem spitzen Gipfel beendet wurden; wahrscheinlich das Schließen der Tür, dachte Kubak. Danach Stille. Lotty scrollte Minute für Minute weiter nach vorne. Nach etwa einer Viertelstunde gab es erneut Ausschläge. »Hier ist was«, erklärte Lotty. Sie positionierte den Cursor an den Beginn des Ausschlags und spielte die Aufnahme ab.

Rauschen. Dann ein Klicken. Die Tür schwang auf. Fußtritte.

Die Aufnahmequalität war nicht besonders gut, stellte Kubak fest. Alles klang kratzig und fern – wie der Ton alter Schwarzweißfilme, die ihm sein Großvater vorgespielt hatte.

Eine Stimme: »Er ist nicht da.«

Kubak versuchte zu erkennen, ob es eine Stimme war, die er kannte. Holligan vielleicht. Oder Kilian. Doch durch die Aufnahme klang sie zu fremd, als dass er sie hätte zuordnen können.

Wieder die Stimme – oder vielleicht auch eine andere: »War wohl ein Kurzbesuch. Installiert eine Kamera! Da hinten. Im Blumenbukett.« Schritte. Wie viele Personen mochten es sein? Mindestens drei. »Durchsucht seine Tasche! Aber vorsichtig. Ihr dürft nichts verändern. Der Kerl ist nicht so blöd, wie er aussieht. Er darf nichts merken. Wir fangen ihn ab, und dann ist Ruhe. Und kein Aufsehen. Sonst haben wir in Windeseile die Presse am Hals.«

Kubak, Miss Chelsea und Lotty waren so sehr in die Aufnahme vertieft, dass sie das Klopfen an der Tür erst nach ein paar Sekunden wirklich wahrnahmen. Lotty drehte den Kopf: »Wer kann das sein?« Es klopfte energischer, hektischer. »Wer da?«, rief sie. »Lu«, klang es von draußen. »Seid ihr da?«

»Ja, natürlich. Sonst …« Lotty sprang auf, eilte zur Tür und öffnete sie mit einem Ruck.

Lu Chang stolperte herein, als hätte sie sich im letzten Moment gegen die Tür werfen wollen. Statt ihres roten Kostümes trug sie nun einen braunen Pyjama, der nicht so aussah, als hätte Lu vorgehabt, damit noch durch das Hotel zu streifen. Sie wedelte mit einer alten Fotokamera vor Lottys Gesicht herum. »Das … hier …«, begann sie. »…froh, euch zu treffen … seht es euch an.«

»Immer mit der Ruhe, Miss Chang.« Miss Chelsea hatte sich erhoben, war auf die junge Chinesin zugegangen und führte sie weiter in das Zimmer hinein. Lotty schloss die Tür hinter ihr, lehnte sich kurz mit dem Rücken dagegen, warf Kubak einen fragenden Blick zu und stieß wieder zur Gruppe dazu, um zu sehen, was Lu Chang zu berichten hatte

. »Setzen Sie sich und erklären Sie in Ruhe, Miss Chang.« Miss Chelsea drückte Lu förmlich in den Sessel. Nun erhob sich auch Kubak.

»Ich war in meinem Zimmer. Die Party gefiel mir nicht. Ich dachte nach und schaute dabei aus dem Fenster ins All.« Sie bemühte sich, ruhig zu sprechen. »Und dann …« Sie streckte ihnen die Digitalkamera hin. Lotty nahm sie entgegen und startete sie. Miss Chelsea und Kubak beugten sich gespannt über ihren Rücken.

Bild für Bild klickte Lotty durch die Aufnahmen. Zuerst sah Kubak nur die Dunkelheit des Alls, durchzogen von Sternensprenkeln und Lus schwachen Konturen, die sich in der Scheibe ihres Zimmers spiegelten. Dann sah er den grauen Punkt. Er bewegte sich an dem Fenster vorbei, wurde mit jedem Bild kleiner. Lotty verkleinerte den angezeigten Bildausschnitt, bis nur noch der Punkt zu sehen war. Es war ein Gesicht. Trotz der schlechten Aufnahme erkannte man die Augenhöhlen, den Ansatz der Nase und den Mund. Der Rest des Körpers zeichnete sich nur schwach vor dem schwarzen Hintergrund ab. »Harry?«, fragte Kubak, und es schien ihm mit einem Mal so, als habe er nicht Lotty oder Lu Chang, sondern den Mann auf dem Bild selbst gefragt. »Bist du das, Harry?«

»Ich bin es.« Kubak konnte nicht antworten. Sein Mund bewegte sich einfach nicht. »Weißt du, was ich hier mache, Kubak? Du bist …« Der Mann schien seine Hand auszustrecken. Er flehte Kubak an, ihn aus dem Bild herauszuziehen. Kubak reckte die Hand. Seine Finger zitterten, als sie gegen das Display stießen. »Du verstehst mich schon, Kubak. Das ist doch alles nur Kunst.«

Lotty klickte weiter. Und weiter. Mit jedem Bild etwas langsamer. Das Gesicht wurde kleiner. Blasser. Bald war es nur ein Stern unter Sternen. Im letzten Bild war es nicht einmal mehr das.

 

Teil 5

Der Schalter

Teil 5

Der Schalter

 

Die Stille des Weltraums war in die Suite eingedrungen. Miss Chelsea lag nachdenklich auf ihrem Bett, die Arme über dem Bauch zusammengeschlagen. Lu war in einen Sessel versunken und starrte gegen die Decke. Kubak saß seitlich an das Panoramafenster gelehnt und sah der Erde beim Verschwinden zu. Langsam trat das Orbit Hotel in die Nachtseite ein.

Kubak stellte sich vor, wie es wäre, zu fallen, auf die Erde zuzurasen und beim Eintritt in die Atmosphäre zu verglühen. Er dachte an die Fliege, für die er das Hotel zuerst gehalten hatte. An seine Angst vor dem Flug. Er lächelte. Im Moment täte er nichts lieber, als in den Blue Glider zu steigen und nach Penzance zurückzukehren. Selbst der Gedanke an Fish 'n' Chips kam ihm traumhaft vor.

Während Kubak so dachte, schweifte sein Blick auf Lotty. Sie saß am Schreibtisch, über ihr Sketchbook gebeugt, und tippte darauf herum. Ihre Geschwindigkeit beeindruckte Kubak. Eben verfasste sie einen Text, dann klickte sie sich in ein Bildbearbeitungsprogramm und erstellte Vergrößerungen der Aufnahme, die Lu geschossen hatte. Sie bereinigte das Bild und wandte einige Filter darauf an, um Harrys im Weltraum entschwindende Silhouette hervortreten zu lassen. Sie fügte das bearbeitete Bild in ihr Dokument ein und schrieb weiter.

»Was machen Sie?«, fragte Kubak. Lotty reagierte nicht. »Schreiben Sie einen Artikel?«

»Wollen wir uns nicht endlich duzen, Kubak?« Lotty blickte nicht einmal auf. »Das ist lange überfällig, oder? Ich meine, wir saßen sogar gemeinsam auf der Polizeiwache.«

»Na, wenn du meinst, Lotty.«

»Du kannst mich auch gerne Song nennen. Das ist immerhin mein richtiger Name.« Sie unterbrach sich. Die plötzlich eintretende Stille 

schien lauter als das Tippen selbst. »Und wie heißt du nochmal?«

»Kubak.«

»Nein, ich meine, dein Vorname. Wie nennt man dich zu Hause?«

»Kubak. Ich hieß immer schon Kubak. Sogar in der Grundschule.«

»Eigenartig.«

»Und was ist mit Lotty? Liegt auch nicht gerade auf der Hand, wenn man Song heißt.«

»Naja, mein zweiter Vorname ist Charlotte. Mein Vater bestand darauf, dass ich mir irgendwann auch einen nicht-asiatischen Namen aussuchen könne. Aber letztlich hatte ich keine Wahl. Lotty hat allen irgendwie besser gepasst.«

»Klingt irgendwie wehmütig.«

»Tschuldige. Ich rede oft Unsinn, wenn ich denke.«

»Wie alt bist du denn?«

»Das geht dich nichts an.«

»Dann sag mir wenigstens, woran du arbeitest. Das geht mich ja wohl was an.« Kubak erhob sich umständlich; sein linkes Bein war ihm eingeschlafen. Während er zum Schreibtisch schlich, warf er einen Blick zu Lu und Miss Chelsea. Beide waren eingenickt.

»Ich schreibe einen Artikel. Es muss schnell gehen. Morgen früh schließt sich das Intertainfenster. Das heißt, wir können dann nicht mehr ins Netz.«

»Und das ist schlecht, weil ...«

Lotty atmete aus. Sie reichte Kubak ihr Sketchbook. Mord im Weltall lautete die Überschrift ihres Artikels. Darunter das Bild Harrys. Kubak überflog den bisherigen Text. »Das ist ein Artikel über den Mordfall Harry DaBakia. Darin bereite ich alles auf. Seine Vorgeschichte, seine Untaten im Hotel, seine Pläne, seine Ermordung. Bis spätestens sechs 

Uhr früh ist die Sache im Netz.«

»Und was bringt uns das hier oben?«

»Chaos.« Lotty lächelte. »Du kannst davon ausgehen, dass jeder der Presseleute hier im Hotel regelmäßig prüft, was die Konkurrenz treibt. Wenn ich ihnen diese Story präsentiere, stürzen sich alle wie verrückt auf den Werkschutz, diesen Kilian und Dimitrios Barakis. Jeder wird die Augen offenhalten. Und wenn jeder die Augen offenhält ...«

»... sind wir in Sicherheit.« Kubak klopfte mit den Füßen einen Rhythmus. Er gab Lotty das Sketchbook zurück. »Einen Versuch ist es allemal wert.«

»Wir ziehen das ganz groß auf.« Lottys Begeisterung färbte nur schwer auf Kubak ab. »Wir inszenieren dich als Opfer des Werkschutzes. Aus eigener Unsicherheit und Inkompetenz suchen sie verzweifelt einen Schuldigen. Und Harrys Tod? Was hat der Werkschutz damit zu tun? Die anderen werden sich darum reißen.«

»Die Frage ist aber berechtigt. Wer sagt denn, dass es der Werkschutz war?«

»Du meinst, vielleicht hat Harry sich aus Versehen aus dem Hotel katapultiert?«

»Ja. Nein. Ich weiß nicht einmal, wie das überhaupt passiert sein soll. Ist ja keine Baustelle hier, wo jede zweite Tür in den Weltraum führt.«

»Ich habe gelesen, dass der Müll, der hier aufkommt, ins All geschossen wird. Vielleicht ist es auf diese Weise passiert. Wir ...« Lotty überlegte. »Ja, wir könnten ein wenig recherchieren. Wir sagen, wir wollen über die Vorgänge hinter den Kulissen schreiben. Vielleicht dürfen wir uns umsehen. Aber erst morgen. Ich muss mich beeilen.« Und damit wandte sie sich von Kubak ab und schrieb weiter.

Missmutig schlurfte Kubak in der Suite hin und her. Miss Chelseas 

ruhiger, rasselnder Atem gab ihm den Takt vor. Als er zum dritten Mal vor dem Panoramafenster stand, atmete er schwerfällig aus und vergrub die Hände in den Taschen. Er spielte darin mit etwas herum, das er zuerst für seinen Kugelschreiber hielt, doch irgendwie fühlte es sich nicht an wie sein Kugelschreiber. Dann fiel es ihm ein. Kubak zog den Stift hervor, den er am Nachmittag unter Harry DaBakias Bett gefunden hatte, als dieser noch Aybard Hakari hieß – und noch lebte, ergänzte er.

Etwas störte Kubak. Jetzt, da er sich Harrys Zimmer vorstellte, die umgeworfenen Möbel, den Blutfleck, da reifte in ihm die Frage, mit welchem der Gäste Harry sich einen Kampf geliefert hatte. Hatte er überhaupt? Als er ihn später in der Blue Planet Bar getroffen hatte, da hatte Harry nicht angeschlagen gewirkt, nein, er war ihm eher besonnen vorgekommen, ein wenig aufgeregt vielleicht – wie jemand, der vor einer wichtigen Prüfung ein letztes Mal einatmet.

Kubak betrachtete den Kugelschreiber genau. Er sah gewöhnlich aus, ebenso wie der Kugelschreiber Miss Chelseas gewöhnlich ausgesehen hatte. »Lotty?«

»Ja?« Sie unterbrach ihre Arbeit nur ungern.

Kubak drehte sich zu ihr um und wedelte mit dem Kugelschreiber. »Kannst du rausfinden, ob Harry da irgendwelche Dateien drauf gespeichert hat?«

»Gib her!«

Kubak überreichte ihr den Stift.

»Normalerweise sollte das nicht so einfach gehen.«

»Wieso?«

»Damit nicht jeder gleich Zugriff auf fremde Daten hat, wenn man den Stift mal aus Versehen liegenlässt. Zumindest eine Passwortsicherung würde ich erwarten. Wenn er das Teil auf sein Sketchbook angemeldet hat, können wir es vergessen.«

Harrys Sketchbook. Hatte der überhaupt einen Computer? Mit Sicherheit. Doch wo befand er sich, als sich Kilian und Alfred Haddon Zutritt zu Harrys Zimmer verschafft hatten? Und wo befand sich Harrys Reisegepäck? Der ganze Kleinkram, den man in den ersten Tagen in seinem Hotelzimmer verteilt?

Lotty betrachtete den Stift von allen Seiten. »Das ist ein älteres Modell. Vielleicht haben wir Glück.« Sie öffnete ein Programm und hielt den Taster des Kugelschreibers gedrückt. Es dauerte nicht lange, bis sich auf dem Bildschirm ein Fenster öffnete. »Da haben wir’s ja.« Lotty lächelte. »Nur eine einzige Aufnahme.«

»Spiel sie ab.«

Als Lotty die Datei aufrief, erklang Harrys Stimme durch die schwa­chen Lautsprecher: »Im Orbit Hotel angekommen. Bin hier als Aybard Hakari abgestiegen; ich tue so, als wäre ich irgendein Aktionskünstler mit japanischer Abstammung. Anscheinend hat mich noch keiner er­kannt. Zum Glück. Ich habe schon die ersten Ideen, wie ich hier Un­ruhe stiften kann. Ich darf mich nur nicht erwischen lassen. Wenigstens zuerst nicht. Sobald die Sache mal ins Rollen gekommen ist ... es ist alles so weit vorbereitet, dass auf meine Anwesenheit beim großen Fi­nale durchaus verzichtet werden kann. Habe diesen Idioten Teddy Sitch dazu überredet, mein Gedicht vorzulesen. War nicht allzu teuer. Mal sehen, ob diese Schleimspur Kilian schlau genug ist, hinter die Sache zu kommen. Sein Gesicht möchte ich sehen. Ein Bild für die Götter. Apropos Bild. Ich hab Die Mauern von Sartorius vor mein Zimmer ge­hängt. Bin gespannt, wie lange es dauert, bis Oktober es zu Gesicht be­kommt. Der wird Augen machen. Meine Zimmernachbarin ist heiß, ob­wohl sie Chinesin ist. Vielleicht sollte ich mal zu ihr rübergehen. Aber ich bin als Halb-Japaner unterwegs. Dürfte schwierig werden, bei ihr zu landen. Ich unterbreche hier mal. Ich melde mich wieder, nachdem ich ein bisschen Chaos gestiftet habe.« Damit endete die Datei. Kubak warf einen flüchtigen Blick zu Lu. Sie war gottlob nicht aufgewacht; wahrscheinlich wäre sie an die Decke gegangen.

»Das ist mehr als interessant«, murmelte Lotty. »Das wird ein Knallerartikel, das verspreche ich dir. Wenn ich die Sache mit einem kleinen Ausschnitt aus dieser Aufnahme untermauern kann ...«

»He, der Kugelschreiber gehört mir. Also, ich meine, mir gehört er auch nicht direkt, aber ...«

»Lass mich nur machen, Kubak.«

Kubak hatte das Gefühl, er würde Lotty überwältigen müssen, wollte er den Kugelschreiber wiederhaben. Nun war sie in ihrem Element. Er zweifelte nicht daran, dass sie einen wortgewaltigen Artikel schreiben konnte, dass sie ihre Leserschaft voll im Griff hatte und genau die Wirkung erzielte, die sie im Sinn hatte. Kubak wusste nur nicht, ob ihm das gefiel.

 

Kubak konnte nicht schlafen. Er saß auf dem Boden und lehnte an der Wand, die Augen fest geschlossen. Jedesmal wenn er glaubte, endlich einzuschlafen, riss in das dumpfe Tippen zurück. Lotty hörte einfach nicht auf. Je länger sie schrieb, desto kürzer schienen Kubak die Pausen zu werden, die sie sich nahm.

Er stellte sich vor, es wären nicht ihre Finger, die auf das Display trommelten, sondern Regen auf sein Autodach auf der Fahrt von der Redaktion nach Hause. Er fühlte die warme Heizungsluft im Gesicht, das Rauschen seines Diesels, sah die Straßenschilder im Fernlicht aufflammen und an ihm vorüberziehen.

Das war es, was er sich jetzt wünschte. Wovon er träumen wollte. Mit dem Auto nach Hause fahren. Doch er schlief nicht ein.

 

Kubak schreckte auf, als jemand wild gegen die Tür klopfte. Anscheinend war er doch irgendwann eingenickt und zur Seite gesackt. Mühsam richtete er sich auf. Sein Rücken schmerzte. Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es kurz nach sieben Uhr früh war. Die Erde vor dem Panoramafenster war ganz in ihrem eigenen Schatten verschwunden.

»Hören Sie! Sind Sie da?« Er erkannte die Stimme zuerst nicht. »Nun machen Sie auf! Mrs Chelsea, ich bitte Sie. Und Kubak, Sie sind doch bestimmt auch da drin.« Langsam dämmerte es Kubak. Es war Kilian. Wieso klopfte er? Hatte es etwas mit dem Artikel zu tun, den Lotty schreiben wollte?

Kubaks blickte schweifte zum Schreibtisch. Lotty hatte ihr Sketchbook von sich geschoben und war mit dem Kopf auf der Tischplatte eingeschlafen. Obwohl das Klopfen ohrenbetäubend durch den Raum hallte, wachte sie nicht auf.

Stattdessen regte sich Miss Chelsea. Und wie sie sich regte! Wie von einem Insekt gestochen sprang sie auf, trampelte zur Tür und riss sie auf. Kilian stand mit erhobener Hand vor ihr, bereit, um ein weiteres Mal zu klopfen. »Darf ich Sie darauf hinweisen, mein Lieber«, donnerte sie, »dass sich eine derartige Klopferei, egal zu welcher Uhrzeit, von selbst verbietet. Wenn Sie etwas wünschen, vereinbaren Sie einen Termin. Aber nicht jetzt.« Obwohl sie gerade erwacht war, klang ihre Stimme klar und füllig. Wahrscheinlich hatte sie Übung darin, dachte Kubak. Er wunderte sich, ob sie überhaupt begriff, wer vor ihr stand.

Als Kubak sich reckte und näher herantrat, erkannte er Holligan, den Chef des Werkschutzes. Der hatte die Arme in die Seite gestemmt und blickte Kubak über Kilians Schulter hinweg grimmig an.

»Mrs Chelsea ...«

»Miss Chelsea, mein Guter!«

»Ich kann nicht glauben, was sie da getan haben. Was sollte das? Dieser ganze Artikel, der ... ich ... ich bin völlig ... geplättet.« Kilians Stimme überschlug sich. »Sie haben, ebenso wie alle anderen Mitglieder der Presse, unterschrieben, keine Artikel vor Ablauf der ersten zwei Tage zu veröffentlichen. Das erstens. Und zweitens ... solch ein spekulativer Artikel ist darüber hinaus ... völlig ... was haben Sie angerichtet?!«

Miss Chelsea runzelte die Stirn und verstand nichts. Sie wandte sich kurz um zu Kubak, der zum Schreibtisch schielte. Lotty lag immer noch regungslos dort. Anscheinend, schlussfolgerte Kubak, hatte sie den Artikel noch rechtzeitig veröffentlicht.

Als Miss Chelsea ihre Assistentin da liegen sah, nickte sie und fixierte Kilian. »Ich kann Ihnen versichern, Sir, dass all unsere Aktionen, und damit meine ich die meinigen ebenso wie die meiner fähigen Assistentin, mit unserem Verlagshaus abgesprochen und absolut integer sind. Wenden Sie sich diesbezüglich bitte an unsere Rechtsabteilung. Und nun entschuldigen Sie uns.« Sie blickte demonstrativ auf ihre Armbanduhr. »Es ist früh und wir möchten uns noch etwas ausruhen, bevor wir frühstücken.«

»Frühstücken?« Kilian schrie beinahe. »Miss Chelsea, ich glaube, Sie verkennen die Lage, nein, nein, das ist nicht das richtige Wort. Dazu müssten Sie die Lage ja erst einmal überhaupt kennen. Sie ...«

»Halten Sie für einen Moment die Luft an, Mr Kilian, wären Sie so nett?« Kilian war kurz davor, auszurasten, doch er beherrschte sich. »So. Und nun seien Sie bitte so freundlich und erklären sich.«

»Was gibt es denn da zu erklären? Ihr Artikel hat ... ach, sehen Sie es sich doch selbst an. Ich bitte Sie! Vielleicht können Sie die Sache ja noch geradebiegen.«

»Wie Sie wünschen. Nach Ihnen, Mr Kilian.«

Kilian nickte erschöpft und stapfte den Gang hinab. Miss Chelsea folgte ihm. Ohne Vorwarnung trat Holligan an Kubak heran und packte ihn am Ärmel. »Sie kommen auch mit, Cubac! Das Ganze ist doch bestimmt auf Ihrem Mist gewachsen. Also sehen Sie zu, dass Sie die Sache wieder in Ordnung bringen.«

»Mit Verlaub, Mr Holligan, aber ist es nicht Ihre Aufgabe, Sachen wieder in Ordnung zu bringen? Oder waren Sie etwa nicht der Leiter der Servicekräfte?« Noch ehe Kubak sich überlegen konnte, ob er den Mund besser nicht so weit aufgemacht hätte, hatte Holligan ihn am Kragen gepackt, auf den Flur gezogen und gegen die Wand geschleudert. Kubak wurde schwindelig, er wedelte mit den Armen und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Schon stand Holligan dicht vor ihm, nahm ihn in den Polizeigriff und presste sein Gesicht gegen die Wand. »Jetzt mal aufgepasst, Cubac. Eines schwöre ich Ihnen. Falls Sie das Orbit Hotel jemals wieder verlassen sollten, sorge ich persönlich dafür, dass Sie ein paar Jahre im Gefängnis verbringen. Sie sind nicht besser als dieser Möchtegernrevoluzzer DaBakia.«

»Haben Sie Harry umgebracht?«

Holligan schwieg.

»Dafür landen Sie im Knast, Holligan.«

»Lassen Sie meinen Freund los!«, tönte es vom Ende des Ganges. Miss Chelsea war empört stehengeblieben. Als sich Holligan zuerst nicht rührte, setzte auch Kilian ein: »Holligan, ich bitte Sie. Spielen Sie nicht auch noch verrückt.« Erst jetzt löste der Leiter des Werkschutzes seinen Griff und stieß Kubak von sich. Seine Knöchel schmerzten. Kubak fluchte in Gedanken. Dieser Holligan war kräftiger, als er aussah. »Los jetzt!«, befahl dieser. »Ins Restaurant.«

 

Kubak traute seinen Augen nicht. Das Restaurant war ein Schlachtfeld. Tische waren umgeworfen und Stühle auseinandergenommen worden. Es hatten sich mehrere Gruppen gebildet, die alle lautstark miteinander stritten. Über die gesamte Breite des Restaurants verfluchten sich zwei Frauen gegenseitig. Kubak schnappte den Ausdruck »DaBakias Hure« auf.

In einer Ecke lag ein Mann mit einer blutenden Wunde am Kopf. Eine junge Frau kniete neben ihm und versorgte ihn notdürftig. Ein paar andere lehnten angeschlagen, aber körperlich unversehrt, an der Wand und schnappten nach Luft.

Mit einem Mal, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, sprangen alle Blicke auf Kubak und Miss Chelsea. »Da ist sie«, rief ein Mann. »Die fette Qualle vom Art Explorer, die diesen ganzen Scheißdreck verzapft hat. Du willst doch nur den großen Rummel machen, du Dampfwalze.«

»Halt die Fresse, Arschloch!«, fauchte ein Mann aus einer anderen Gruppe. »Ohne sie wären wir jetzt schutzlos dem Werkschutz ausgeliefert.«

»Das ist doch alles Humbug, Sie naiver Idiot. Reines Kalkül.«

Erst jetzt bemerkte Kubak, dass sich das Restaurant nach und nach füllte. Durch alle Zugänge strömten Künstler und Presseleute herein. Man musste kein Psychologe sein, um sagen zu können, dass die Meute aufgebracht war. Alle starrten zuerst auf Kubak und Miss Chelsea, dann warfen sie sich untereinander böse Blicke zu. Als die ersten Beleidigungen fielen, entbrannte eine weitere Saalschlacht.

Kubak und Miss Chelsea manövrierten sich an den Rand des Restaurants und verschanzten sich mit Mühe hinter einem Tisch. Während Holligan ein paar seiner Männer zusammentrommelte und versuchte, die Situation zu beruhigen, stemmte sich Kilian Miss Chelsea entgegen. »Sehen Sie, was ich meine? Das wird Sie einiges kosten. Die Polizei ist bereits verständigt. Morgen früh dockt der Blue Glider mit einer Hundertschaft an und bereitet der Sache ein Ende.« Er schüttelte den Kopf. »Was haben Sie da bloß angefangen?«

»Wieso wir?«, brüllte Kubak. Gegen den Lärm im Saal kam seine Stimme kaum an. »Haben wir etwa Harry DaBakia ins Weltall geschossen? Was ist hier los, Kilian? Was hatte Harry vor, dass Sie zu solchen Mitteln greifen?«

»Wir haben nicht ...« Ein Mann hatte sich aus der kämpfenden Menge gelöst und Kilian umgestoßen. Er packte Kubak am Kragen, rief »Saboteur! Saboteur!« und riss ihn hinter dem Tisch hervor. Instinktiv versuchte Kubak die Arme vor sein Gesicht zu reißen, doch der Mann war schneller. Der Schlag traf Kubak auf die Stirn. Etwas blitzte vor ihm auf. Als ihn ein Tritt in den Magen traf, wusste er nicht mehr, ob er noch stand oder bereits am Boden lag. Alles um ihn herum tobte wie ein Meer im Sturm.

War es das, was Harry gewollt hatte? Chaos? Zerstörung? War das sein Plan für die ComCult gewesen, sein großes Finale?

Wenn ja – dachte Kubak unter Schmerzen – dann fühlte es sich richtig, richtig gut an.

Teil 6

Marionetten

 

Es dröhnte in Kubaks Ohren. Er wähnte sich mitten im Kampfgetümmel und schlug wild um sich, bis sich der Schleier vor seinen Augen legte und er in Kilians Gesicht blickte. Der hatte ihn an den Schultern gepackt und schüttelte ihn. »Sehen Sie, Cubac? Das ist alles Ihre Schuld.« Nur langsam dämmerte es Kubak. Er war in eine Schlägerei geraten; er hörte das Geschrei immer noch dröhnen, oder vielleicht dröhnte es wirklich noch. Er lehnte in einem Flur an der Wand. Kilian hatte sich zu ihm hinuntergebückt, Miss Chelsea stand, die Arme verschränkt, daneben und wirkte ratlos. »Da haben Sie uns ja was Schönes eingebrockt, Cubac.« Mit jedem Wort nahm Kubak den Schmerz ein wenig mehr war: in der Magengegend, an der Schulter, im Kopf. Etwas kitzelte unter seiner Nase. Er wischte mit dem Unterarm darunter hinweg; ein roter Streifen blieb auf dem Hemd zurück. »Hier, nehmen Sie.« Kilian hielt ihm ein Taschentuch hin. Es war benutzt.

Kubak sprang vom Boden auf und packte Kilian am Kragen, noch bevor der wusste, wie ihm geschah. Kubak preschte nach vorne und rammte Kilian mit aller Wucht gegen die Wand. »Jetzt passen Sie mal auf, Kilian, und ich sage es Ihnen nur ein einziges Mal. Ich. Habe. Nichts damit zu tun. Ich habe den Artikel nicht geschrieben, ich habe keine Schlägerei angefangen, ich habe niemanden umgebracht. Das einzige, was ich in diesem beschissenen Hotel verbrochen habe, ist, mit dem falschen Mann zur falschen Zeit ein Bier zu trinken. Geht Ihnen das jetzt endlich mal rein, verdammt!?« Hitze. Da war eine unangenehme Hitze in seinem Kopf und schwarze Punkte am Rande seines Sichtfeldes. Kubak torkelte rückwärts, bis er gegen die Wand stieß. Er musste sich irgendwo festhalten. Nein, mehr noch. Er musste sich kurz hinlegen. Der Boden war hart und unbequem, aber sein Kreislauf bedeutete ihm, dass er ein Bett nicht mehr rechtzeitig erreichen würde.

»Kubak, sie sollten dringend auf die Krankenstation«, stellte Miss Chelsea fest. Zum ersten Mal, seit Kubak sie kennengelernt hatte, klang sie verunsichert. »Sie haben ganz schön was abbekommen.«

»Bringen Sie ihn lieber in ein ruhiges Zimmer, Madam. Für die Krankenstation müssen Sie zu lange anstehen.«

»Anstehen? Sind denn so viele ...?«

»Ich fürchte ja. Schnittwunden, Armbrüche. Wir haben alle Mühe, mit diesem ... diesem Debakel zurechtzukommen. Deshalb schlage ich vor, Cubac, ruhen Sie sich bis morgen aus. Sobald wir wieder im Zeitfenster sind, wird der Blue Glider mit Polizisten und Ärzten andocken. Dann räumen wir das Hotel. Vielleicht schaffen wir es, bevor das Hotel das Fenster wieder verlässt. Bis dahin ...«

»Napoleon?!« Mit diesem Wort hatte Kubak nicht gerechnet, und für einen Moment überlegte er, ob er es sich eingebildet haben konnte. Doch es fiel ein zweites und, diesmal lauter, drittes Mal. Eine Dame rannte ungelenk durch den Gang und kam vor Kilian zum Stehen. Kubak erinnerte sich. Es war Madame Chapeau, die Diva mit den geklonten Katern. Sie trug ein weißes Katzenhäuschen vor sich her, in dem eine Katze wild hin- und hersprang und fauchte, als wolle man ihr eine Spritze geben. »Monsieur Kilian, Sie haben nicht zufällig Napoleon X. hier vorbeieilen sehen?«

»Ähm, nein, tut mir leid, Madame.«

»Das ist unerträglich. Wohin könnte er nur gerannt sein? Ich wollte gerade zum Tierarzt mit den beiden, da ihnen das Essen gestern nicht gut bekommen zu sein scheint. Da rempelt mich auf dem Gang eine Horde wild gewordener Affen um, das Türchen springt auf und, zack!, Napoleon ist entwischt. Ja, und nun suche ich ihn. Ob ich vielleicht im Restaurant ...

»Nein, Madame, das möchten Sie sicher nicht«, wandte Kilian ein. »Ihre Horde wild gewordener Affen, fürchte ich, befindet sich – unter anderem – eben dort. Es wäre am besten, wenn Sie wieder auf Ihr Zimmer gingen. Sobald ich Ihren Napoleon zu Gesicht bekomme ... nein, ich denke, das ist gar nicht mehr nötig. Sehen Sie mal!«

Ein junger Mann im Anzug trat zu ihnen heran. Kubak erkannte in ihm den Unternehmer Alfred Haddon, der gemeinsam mit Kilian in DaBakias Zimmer eingedrungen war. Er hatte den Kater fest im Griff und ließ sich auch von dessen wütendem Fauchen nicht beeindrucken. »Ich habe ihn, Madame. Das ist er doch, nicht wahr?«

»Oh ja. Mein kleiner Napoleon. Wo warst du denn? Na komm her.« Haddon half der Diva, ihren Kater in das Häuschen zu stecken, ohne dass er oder sein Bruder entwischten. »Wo haben Sie ihn denn gefunden?«

»Da musste ich gar nicht lange suchen, Madame. Kurz nachdem wir uns aufgeteilt hatten, lief mir der Kleine schon entgegen. Ich habe selbst ein paar Katzen zu Hause und weiß, wie man mit ihnen umspringen muss. Ich habe ihm also ein paar Dollar in die Pfoten gedrückt und ihn gebeten, er möge bitte mitkommen.« Haddon lachte alleine darüber. Madame Chapeau rang sich wenigstens ein Lächeln ab. »Ich bin froh«, begann sie, »in einem heruntergekommenen Laden wie diesem eine charmante und hilfsbereite Person wie Sie getroffen zu haben, Monsieur Haddon. Und Sie, Monsieur Kilian, Sie sind sich hoffentlich im Klaren darüber, dass dies die mit Abstand schrecklichste Veranstaltung ist, die ich je besuchen musste. Was für Gäste Sie da nur eingeladen haben! Aber nun gut. Ich werde auf mein Zimmer gehen. Au revoir, die Herrschaften.« Und damit stapfte Madame Chapeau, das kreischende Häuschen unter dem Arm, auf und davon.

Eine Weile schwiegen Miss Chelsea, Mr Haddon, Kilian und Kubak. Der wagte es nach ein paar Minuten, langsam aufzustehen. Seine Nase blutete nicht mehr, aber Haddons Blick nach zu urteilen sah er immer noch ziemlich mitgenommen aus. »Verzeihen Sie ... Kubak, richtig?«, begann er schließlich. Kubak nickte. »Sie sehen nicht gut aus. Möchten Sie sich vielleicht hinlegen? Ich könnte Ihnen ein Schmerzmittel geben.«

»Nein danke, Mr Haddon, kein Schmerzmittel. Aber hinlegen werde ich mich. Und ich stehe erst wieder auf, wenn die Polizei da ist. Von diesem Saftladen habe ich genug, ehrlich.«

»Ich bedaure«, begann Kilian, »es so oft betonen zu müssen, aber daran sind Sie nicht ganz unschuldig.«

»Sie können mich mal, Kilian. Wenn hier einer was verbockt hat, dann war es doch wohl derjenige, der Harry DaBakia auf dem Gewissen hat. Aber damit haben Sie natürlich nichts zu tun, was?«

»Ich? Nein, habe ich nicht, verdammt.« Schön zu sehen, dass auch ein Mann wie Kilian langsam die Contenance verlor, dachte Kubak.

»Aber etwas müssen Sie doch wissen, Kilian«, schaltete sich Haddon ein. Kilian sah ihn nur fragend an. »Denn wenn ich richtig informiert bin, wurde dieser DaBakia über den Entsorgungsschacht des Hotels in den Weltraum befördert. Der Schacht aber ist Teil der Müllverwertungs- und -entsorgungsanlage, zu der nur das Hotelpersonal Zutritt hat, und nicht einmal alle davon. Ist es nicht so?«

Kilian schluckte. Mehr als ein leises »Ja« brachte er nicht heraus. »Da jedoch Mr Kubak«, erklärte Haddon weiter, »nicht zum Hotelpersonal zählt, wie sollte er die Tat also begangen haben? Und wieso?«

»Ich weiß es doch nicht. Zugang zum Verwertungstrakt brauchte er jedenfalls nicht, denn DaBakia ...« Kilian zögerte. Kubak spürte, wie er 

mit sich rang und sich dann ein Herz fasste. Flüsternd fuhr er fort: »Ich hoffe, das bleibt unter uns, was ich Ihnen jetzt erzähle. Das gilt vor allem für Sie beide von der Presse. Am späten Abend fand ein Mitarbeiter des Hotels Harry DaBakia tot. Er lag in einem Flur auf dem Boden. Der Mitarbeiter hat daraufhin den Werkschutz informiert und der Werkschutz mich. Für mich war klar, dass die Veranstaltung damit beendet ist. Doch als ich auf der Station ankam, war alles schon vorbei. Holligan sagte mir, dass der Werkschutz sich darum gekümmert habe. Ich wollte wissen, was los sei, und bohrte nach. Als Holligan nicht raus wollte mit der Sprache, habe ich Dimitrios Barakis angerufen. Ja, und der hat mir dann die Aufsicht über den Sicherheitsbereich entzogen. Ich solle mich stattdessen rein auf die Veranstaltung konzentrieren. Das habe ich dann – wohl oder übel – auch gemacht. Was meinen Sie, wie ich heute Morgen aus allen Wolken gefallen bin, als ich von dem Artikel gehört habe.«

Ein paar Sekunden der Stille. Haddon reagierte als erster: »Kilian! Wollen Sie damit sagen, der Werkschutz hat eine Leiche verschwinden lassen?«

»So sieht es aus, ja.«

»Wieso?«, tönte nun Miss Chelsea. »Ich meine, zu welchem Zweck? Das Verschwinden wäre doch spätestens in ein paar Tagen aufgeflogen, wenn DaBakia nicht mehr zurückgekommen wäre.«

»Ich weiß es doch selbst nicht. Ich habe nur noch mitbekommen, dass DaBakia – angeblich zumindest – versucht hat, in die Wohnung von Dimitrios Barakis einzudringen. Zu dem Zeitpunkt war er gerade nicht da, weil er sich auf den Auftritt vorbereitet hat. DaBakia habe sich aggressiv an der Tür zu schaffen gemacht.«

»Sagt wer?«, fragte Kubak.

»Selene«, antwortete Kilian. »Sie befand sich mit ihrem Kind in dem Zimmer und hat sofort den Werkschutz gerufen. Der hat darauf nach DaBakia gesucht, aber den Ort vergessen, wo sich niemand verstecken würde.«

»In der Blue Planet Bar.«

»Ja. Aber was mit DaBakia geschah, nachdem er aus der Bar geflüchtet war, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass mir Barakis persönlich den Fall DaBakia entzogen hat. Er sagte nur, das sei Aufgabe des Werkschutzes. Ja, und nun soll ich dafür sorgen, dass die Meute sich beruhigt.«

»Das ist eine Mammutaufgabe«, nickte Haddon.

»Sie sagen es.«

»Wenn ich Ihnen dabei behilflich sein kann – als Leiter einer großen Firma weiß ich, wie man mit solcherlei Problemen umzugehen hat.«

»Ich ahne es schon«, schob sich Kubak dazwischen. »Sie drücken ihnen ein paar Dollar in die Hand und bitten sie aufzuhören.«

»Äußerst komisch, Mr Kubak. Sie und DaBakia hätten gut zusammengepasst.«

»Sie kannten ihn?«

»Ja, in der Tat. Ich habe ihn gestern ebenfalls in der Blue Planet Bar kennengelernt. Gestern Mittag. Er hat mich erkannt und sich von mir ein Bier spendieren lassen. Eigentlich ein netter Kerl. Nur immer mit dem Kopf durch die Wand. Sie beide sind sich nicht unähnlich.«

»Freut mich zu hören, Mr Haddon. Freut mich außerordentlich.«

 

Als Miss Chelsea und Kubak endlich in den Flur einbogen, in dem ihre Suite lag, hoffte Kubak, endlich etwas Ruhe zu finden. Er wollte schlafen, seinetwegen auch auf dem Fußboden. Einfach nur die Augen 

schließen. Vielleicht hätte er Haddons Angebot doch annehmen sollen. Eine Schmerztablette schien ihm als Frühstück genau das richtige zu sein.

Doch die ersehnte Ruhe kam nicht. Die Tür zu Miss Chelseas Zimmer war eingetreten, Schränke, Tische und Taschen durchwühlt. Lotty saß zusammengekauert in einer Ecke und zuckte erst zusammen, als ihre Chefin und Kubak das Zimmer betraten, richtete sich dann aber erleichert auf und schritt auf die beiden zu. »Gott sei Dank!«, rief sie. »Der Werkschutz war hier. Dieser Holligan. Haben die Tür eingetreten, obwohl sie doch bestimmt Generalschlüssel haben, und dann haben sie alles durchwühlt und alle unsere Geräte mitgenommen, die Recorder und die Sketchbooks, und als ich mich dagegen wehren wollte, hat mich einer von denen mit einer Waffe bedroht und mich in die Ecke gestoßen, und ...«

»Bitte, holen Sie Luft, meine Liebe«, versetzte Miss Chelsea. Lotty fing sich nur mit Mühe. »Der Werkschutz, sagen Sie? Auf diesen Laden wird einiges zukommen. Ich rufe sofort diesen Kilian an und ...«

»Vergessen Sie’s, Clara«, stöhnte Kubak, als er einen umgestoßenen Sessel aufrichtete und sich hineinfallen ließ. Selbst das weiche Polster tat ihm weh. »Sie haben’s doch gehört. Kilian hat nichts mehr zu sagen. Dieser Barakis hat das Ruder selbst in die Hand genommen, Gott weiß, wieso. Alles, was uns bleibt, ist, bis morgen zu warten, zur Erde zu fliegen und einen fetten Abriss über diesen Scheißladen hier zu schreiben. Das Hotel wird geschlossen und schwebt jahrhundertelang als Weltraummüll im Orbit. Hm. Das wäre was. Lotty, du blutest.« Kubak zeigte auf Lottys Bluse. Knapp unter der Schulter hatte sich ein roter Fleck gebildet. Sie krempelte den Ärmel hoch. »Ach, verdammt. Dieser Typ hat mich gegen den Tisch gestoßen. Wenn ich den erwische. Danke 

für den Hinweis. Du hast auch was abbekommen, wie ich sehe.«

»Ja, ich bin ... in eine Art Schlägerei geraten. Nicht so schlimm. Hier.« Kubak nestelte eine Packung Stofftaschentücher aus seiner Jacke und reichte sie Lotty. Sie nickte und lächelte ihm zu. »Wo ist eigentlich Lu?«

»Abgehauen, nachdem der Werkschutz verschwunden ist. Die war völlig durch den Wind und hat irgendwas geflucht von wegen: dass sie dich bloß kennenlernen musste!«

»Ich bin wohl immer für eine Überraschung gut.«

Während Miss Chelsea ihre Assistentin über den Stand der Dinge informierte, griff Kubak ein zweites Mal in seine Jackentasche. Was war das für ein Papier, das sich darin befand? Er zog es heraus und erinnerte sich. Teddy Sitch. Sacred Groves. Er schlug den Gedichtband irgendwo in der Mitte auf.

 

Der Atem der Welt

kondensiert in der Kälte

deiner Berührung.

 

Erstarrt wie ein Körper aus Eis

stehe ich dort und genieße

die Stille des Augenblicks.

 

Kubak konnte sich nicht erklären, wieso, doch etwas an dem Gedicht gefiel ihm. Vielleicht war es die Einfachheit des Bildes, von der eine stille Faszination ausging, die Kürze des Moments. Kubak fragte sich, wieso ein Dichter wie Teddy Sitch Geld angenommen hatte, um ein 

fremdes Gedicht vorzulesen, das zudem noch chiffrierter Blödsinn gewesen war. Was hatte er sich davon versprochen?

Chiffren. Verschlüsselungen. Rätsel. Irgendetwas hatte Harry geplant, und alle Andeutungen, die er hinterlassen hatte, waren Teil seines Plans. Er wollte, dass man ihm auf die Spur kommt. Hatte er sein Zimmer absichtlich verwüstet, um für Aufregung zu sorgen? Hatte er den Kugelschreiber mit der Tonaufzeichnung unter sein Bett gelegt in dem Glauben, der Werkschutz würde ihn finden und seine Schlüsse daraus ziehen? Nun, da hatte er den Werkschutz offensichtlich überschätzt. Dann wollte er in Barakis’ Wohnung eindringen. Weshalb? Und wo befand sich sein Gepäck? Er hatte ja vermutlich mehr als nur einen Kugelschreiber auf seine Reise mitgenommen.

Kubak sprang auf. Als seine Umgebung zu glühen begann, sezte er sich jedoch kurz wieder hin und mahnte sich, die Sache langsam anzugehen.

»Was ist mit Ihnen, Kubak?«, fragte Miss Chelsea. Kubak richtete sich erneut auf, diesmal behutsamer. »Ich hab da eine Idee. Ich glaube, ich weiß, wo Harry sein ganzes Gepäck versteckt hat.«

»Harry? Mein Lieber, eben wollten Sie sich bis morgen auf’s Ohr legen und auf die Polizei warten.«

Kubak runzelte die Stirn. Mist! Sie hatte Recht. »Ja, schon. Aber irgendwie ... irgendwie lässt mich die Sache nicht los. Ich habe das Gefühl, dass man Harry Unrecht tut.«

»DaBakia ist tot. Das belangt ihn nicht mehr.«

»Aber mich. Ich hab das Gefühl, wenn ich morgen abreise und nicht weiß, was eigentlich los war, kann ich den Rest des Jahres nicht mehr ruhig schlafen.«

»Na wenn Sie meinen, Kubak. Aber passen Sie auf sich auf, das versprechen

Sie mir! Ich werde mich hier einschließen und mich ausruhen. Diese ganze Unruhe macht mir doch sehr zu schaffen.«

Kubaks Blick wechselte zwischen Miss Chelsea und der eingetreten Tür hin und her. »Möchten Sie sich vielleicht in meinem Zimmer ausruhen, Clara?«

 

Kubak und Lotty begleiteten Miss Chelsea zu Kubaks Zimmer. Sie legte sich auf das Bett und zog eine Schlafbrille auf. »Wenn irgendwas ist, weckt mich ruhig.« Kubak nickte nur, obwohl sie das nicht sehen konnte.

Lotty verschränkte die Arme. »Gehen wir?«

»Wieso wir? Wäre es nicht besser, wenn du auch hier ...«

»Wieso sollte ich?«

»Ja weil ... du bist verletzt.«

»Ich bitte dich, Kubak, du bist ein einziges Wrack. So kann ich dich nicht gehen lassen.«

Kubak seufzte. »Na gut.« Wenn er ehrlich war: Lotty neben sich zu haben, war gar keine so schlechte Idee. Falls dem einen etwas zustieße, konnte der andere Hilfe holen. Und wenn Kubak an die Zustände vorhin im Restaurant dachte, war es gar nicht so unwahrscheinlich, dass irgendwem irgendetwas zustieß. »Alles klar. Komm mit.«

 

Es dauerte eine Weile, bis sie das Zimmer mit der Nummer 033 fanden, da es zum Mitarbeiterbereich gehört und sich in einem anderen Teil des Hotels befand. Kubak klopfte. Nichts rührte sich.

»Du hast doch nicht etwa Bekannte unter dem Personal, Kubak?«

»Nein, das nicht. Ich weiß auch nicht, ob das die richtige Spur ist, aber das könnte schon sein.« Er klopfte noch einmal. »Mr Harris, sind Sie da? Kubak hier, Sie erinnern sich? Der Deutsche? Moninger? Straße ins Jenseits und so weiter?«

»Hauen Sie ab!«, klang es dumpf von drinnen. »Ich hab alles über Sie gelesen. Ihretwegen ist hier der totale Aufstand. Sie sind der fleischgewordene Ärger, und darauf kann ich verzichten, ehrlich.«

Kubak fiel auf, dass Llamar Harris, der Barkeeper der Blue Planet Bar, seinen vornehmen Ton abgelegt hatte. »Aber hätte Ihnen das nicht auch klar sein müssen, als sie Harry DaBakia Unterschlupf in ihrem Zimmer gewährt haben?«, parierte er.

Für einen Moment geschah gar nichts. Dann schwang die Tür auf. »Woher ... oh, Sie sind nicht allein?«

»Nein, äh, das ist ... Miss Pinkerton. Sie begleitet mich.«

»Ach nein! Die Autorin dieses wundervollen Beitrags. Haben Sie noch nicht genug Schaden angerichtet?«

»Ich bitte Sie, Sir«, entschuldigte Lotty sich. »Wir haben nicht vor, Sie zu erwähnen, wenn Sie dies nicht wünschen. Wir versuchen nur, Klarheit in die Sache zu bringen, und da könnten Sie uns behilflich sein.«

Llamars Blick wanderte von Lotty zu Kubak und wieder zurück. »Und woher wissen Sie das von Harry DaBakia und mir? Hat er es Ihnen erzählt?«

»Es war mehr ein Schuss ins Blaue«, gestand Kubak. »Ich gehe davon aus, dass ein Mann, der über Ihre Akribie verfügt, die Schlüsselkarte zu seinem Zimmer nicht einfach so verliert oder velegt.«

»Da haben Sie durchaus Recht, Sir.« Llamar war wieder in seinen gestelzten Tonfall zurückgefallen. »Jedoch möchte ich Sie darauf hinweisen, dass es Mr Kilian ist, der über meine Akribie verfügt. Und die wird auch dringend benötigt. In einer halben Stunde öffnet die Bar. Getränke zu Schleuderpreisen.«

»Was?«

»Das ist seine neue Strategie. Überaus clever, nicht wahr? Die Massen mit billigem Alkohol besänftigen. Nur ein waschechter Engländer konnte auf diese grandiose Idee kommen.«

»Wirklich ... clever, ja.« Die Leute mit Billigpreisen ködern. Das klang mehr nach Haddon als nach Kilian, fand Kubak.

»Er will die Veranstaltung am Abend tatsächlich weiterführen, als wäre nichts gewesen. Das große Finale soll trotz allem stattfinden.«

Das große Finale? Das hatte Kubak schon einmal gehört.

»Irgend so ein Kunstwerk von noch nie dagewesener Pracht und Größe. Künstler unbekannt. Wahrscheinlich von diesem Oktober, diesem Wichtigtuer. Also, ich brauche das nicht. Ich möchte meinen Frieden.«

»Mr Harris«, schaltete sich Lotty ein. »Wären Sie so nett, uns das Gepäck Mr DaBakias zu zeigen? Das würde uns in unseren Recherchen einen großen Schritt weiterbringen.«

»Tut mir Leid, die Herrschaften. Ich befürchte, wenn ich Sie da heranlasse, richten Sie nur noch mehr Unfug an. Ich werde die Sachen morgen der Polizei übergeben. Dass ich mich auf Harry DaBakia eingelassen habe, war ein Fehler, den gemacht zu haben ich gerne zugebe. Einen zweiten Fehler dieser Art weder ich jedoch nicht verantworten. Und deshalb: Guten Tag!« Damit schlug er ihnen die Tür vor der Nase zu.

»Mr Harris, bitte«, setzte Kubak an, doch in dem Zimmer rührte sich nichts mehr. Er blieb noch eine Weile stehen und hoffte, Llamar würde es sich anders überlegen. Bald zog Lotty an seinem Hemd. »Komm, wir gehen.«

»So ein Mist.«

»He, aber du hattest Recht. Harry hat sein Zeug bei dem Barkeeper untergebracht. Was willst du noch?«

Kubak überlegte nicht lange. »Das Zeug.«

 

Lotty und Kubak streiften mehrere Minuten lang durch die Flure und überlegten, was sie tun konnten. »Wir könnten mit diesem Oktober reden«, schlug Lotty vor. »Vielleicht wollte Harry sein großes Finale sabotieren.«

»Mhm. Mit Teddy Sitch würde ich auch gern noch einmal sprechen. Vielleicht hat er das Gedicht noch, das Harry ihm gegeben hat. Damit muss es doch irgendwas auf sich haben.«

Die drei jungen Männer, die ihren Weg kreuzten, bemerkten die beiden erst, als sie beinahe aufeinanderstießen. Kubak erkannte nur einen von ihnen: Rob Boss, genannt Robbie, den Landschaftsmaler mit den abstrakten Einschüben. Die anderen beiden, der eine kleiner noch als Lotty, aber stämmig, der zweite ein schlaksiger Kerl mit weiten Hosen, waren wohl auch irgendwelche Künstler. »Verzeihung«, hauchte Lotty und wollte sich an ihnen vorbeischieben. Der Kleine stieß sie unsanft zurück. »Moment mal«, raunte er. Seine Stimme war kratzig und verhaucht, passte nicht zu ihm, als wäre er schlecht synchronisiert worden. »Seid ihr Prodabakianer?«

»Sind wir was?«, fragte Lotty.

»Prodaba...«

»Denk doch mal mit, Josh«, unterbrach ihn Robbie. »Das ist Kubak.«

»Kubak? Du meinst Kubak, das arme Opfer des Werkschutzes?«

»Der ist mit Sicherheit ein Prodabakianer«, erklärte der dritte.

 

 

Kubak verstand nicht recht, hielt es aber für besser, sich zu wehren: »Ich bin gar nichts, Leute. Nur Privatmann. Wenn Sie Ärger suchen: Ich glaube, drei Flure weiter habe ich ein paar Prodabakianer gesehen.«

»Ihr habt die ganze Veranstaltung ruiniert.« Robbie sah wütend aus. »Kein Mensch interessiert sich mehr für das, was wir hier auf die Beine gestellt haben. Es geht nur noch um diesen DaBakia. DaBakia hier, DaBakia dort.«

»Das ist doch nicht meine Schuld.«

»Ohne Leute wie euch hätten wir hier eine friedliche Ausstellung haben können. Und jetzt? Seid ihr jetzt stolz auf euch?«

Die Aggression, die sich in den drei Künstlern angestaut hatte, bahnte sich ihren Weg nach außen. Kubak ahnte, dass es schwierig werden würde, eine handfeste Auseinandersetzung zu vermeiden. Die drei sahen nicht so aus, als würden sie mit sich reden lassen. »Hört mal«, begann er dennoch. »Ich weiß, als Reporter kann ich die Liebe, die ihr eurer Kunst entgegenbringt, nicht so zu schätzen wissen wie ihr. Aber glaubt mir, nichts wäre mir lieber, als wenn alles wieder seinen gewohnten Gang ginge. Ich habe mit Mr Kilian gesprochen, und der will umgehend ...« Das Schnappen einer Klinge unterbrach ihn in seiner Rede. Der Schlaksige hatte ein Taschenmesser gezogen und schwenkte es nun drohend zwischen Lotty und Kubak hin und her. »Wenn ihr Geld wollt, ich ...«

Der Schlaksige bewegte sich eigenartig; er sah aus wie eine Marionette, die der Puppenspieler wild zappeln ließ. Wieso zappelten alle? Kubak ahnte erst, wie passiert war, als er die Kälte spürte, die seinen Arm hinaufkroch.

 

Teil 7

Oktober

Teil 7

Oktober

 

Obwohl die Klinge seine linke Hand durchstoßen hatte, verspürte Kubak keinen Schmerz. Da war nur Wut. Sie brannte hinter seinen Augen, fraß sich durch seinen ganzen Körper und versuchte, Kubak dazu zu bringen, das Messer herauszuziehen und es einem der Künstler in den Hals zu rammen. Kubak biss die Zähne zusammen, versuchte, sich selbst daran zu hindern. Es fiel ihm schwer. Im Kampf gegen sich selbst stürzte er auf die Knie.

»Ey, hören Sie, Kubak. Das ...« Robbie traute sich nicht, näherzutreten. Er hatte sich vor seine beiden Freunde gestellt, oder vielleicht waren auch sie es gewesen, die sich hinter ihm versteckt hatten. Der schlaksige Messerstecher zuckte zusammen, als würde jemand etwas nach ihm werfen. »So war das doch nicht ... Daran sind Sie mit schuld. Wenn Sie nicht ...«

»Verpisst euch!« Kubaks grollender Schrei war nur ein heiseres Räuspern. Jeder Atemzug strengte ihn an.

»Kubak, du kannst uns mal!« Der Stämmige trat einen Schritt nach vorne. Robbie versuchte vergeblich, ihn aufzuhalten. »Das ist noch das Netteste, was uns eingefallen ist. Also bedank dich schön artig!«

Das Klacken von Schuhen erschreckte die drei Künstler. Reflexartig drehten sie sich um. Lu Chang stand vor ihnen. »Sie drei werden nun verschwinden. Sofort.«

»Was willst du denn?« Der Stämmige schritt drohend auf die Chinesin zu. »Liegt dir irgendwas an dem scheiß Deutschen? Vielleicht sollte ich dir auch ein Messer reinrammen.«

»Lass gut sein, Will!« Robbie versuchte, seinen Freund an der Schulter zurückzuziehen. Doch der redete sich in Rage, baute sich vor Lu auf. »Glaub nicht, dass ich vor einem Mädchen wie dir Halt mache.« Lu reagierte nicht. Sie sah einfach durch ihr Gegenüber hindurch. Mehrere Sekunden lang rührte sich niemand. »Komm, Will«, startete Robbie einen letzten Versuch. Diesmal reagierte sein Freund. Er wandte sich von Lu ab, und zu dritt machten sie sich davon. Als sie um die nächste Ecke verschwunden waren, hörte Kubak, wie sie davonrannten.

Kubaks Wut verflog nicht, und allmählich kam der Schmerz. Er zog sich durch seinen gesamten Arm. Kubak packte das Messer am Griff und zog es mit einem Ruck aus seiner Hand, ohne sich zu fragen, ob er es nicht besser an Ort und Stelle gelassen hätte. Unter seiner Hand hatte sich eine rote Pfütze gebildet. Blut rann seinen Arm entlang, tropfte zu Boden. Er versuchte, die Finger zu bewegen – sie rührten sich nicht.

Lotty hatte sich neben ihn gekniet. Sie machte mehrmals Anstalten, etwas zu unternehmen, schien aber nicht zu wissen, was. Ratlos sah sie sich um. »Kubak, komm. Wir brauchen einen Arzt.«

»Hier!« Lu hatte ihr seidenes Halstuch ausgezogen und warf es Kubak vor die Knie. »Das ist das Letzte, was du von mir siehst.« Ehe Kubak etwas antworten konnte, ja noch ehe er verstand, was Lu ihm damit überhaupt bedeuten wollte, hatte sie Kehrt gemacht und schritt davon. Lotty verband Kubak die Wunde. »Das Messer ist ganz durchgegangen«, murmelte sie unruhig. »Das kann nicht gut sein.«

»Ich sollte mich erschießen.« Kubak wusste schon gar nicht mehr, gegen wen sich seine Wut richtete – gegen Harry, gegen all die Künstler und Reporter im Hotel oder gegen sich selbst.

»Red keinen Unsinn, Kubak! Komm!«

Kubak schüttelte den Kopf, jedoch nicht, weil er nicht mitgehen wollte, sondern weil glaubte, dass es kein Unsinn war.

 

Auf der Krankenstation begegneten Kubak und Lotty viele böse Blicke. Manche der Patienten zeigten auf sie, und all jenen, die selbst eine Verletzung davongetragen hatten, war die Schadenfreude ins Gesicht geschrieben. Kubak ignorierte sie.

Aufgrund der Schwere seiner Verletzung hätte der leitende Arzt Kubak am liebsten auf der Station behalten, doch Kubak wehrte sich. Der Arzt schüttelte nur den Kopf. Er hatte die Hand verbunden und steckte ihm Schmerzmittel zu. »Die gehen auf’s Haus«, grinste er. »Aber tun Sie mir den Gefallen und schonen Sie sich! Und gehen Sie morgen direkt ins Krankenhaus, ja?«

»Versprochen.« Als Lotty und er sich verabschiedet hatten und die Station verließen, hatte Kubak sich bei ihr eingehakt, obwohl gerade seine Füße wahrscheinlich das einzig Unversehrte an ihm waren. Die Schmerzen wollte er ertragen, also verkniff er es sich, die Tabletten zu nehmen. Die würde er noch brauchen, dachte er, wenn ihm morgen die Ärzte im Krankenhaus mitteilten, dass er seine Hand wahrscheinlich eine ganze Weile nicht mehr würde benutzen konnen, wenn überhaupt noch.

»Hör mal, Kubak.« Lotty und er schlenderten durch die Flure. Sie hatten es nicht eilig. Als er kurz stehenblieb, um ein Taschentuch aus der Hosentasche zu ziehen, streckte sich Lotty zu ihm empor und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Wofür war das denn?«, raunte Kubak und schneuzte sich die Nase. »Für meine Dummheit?«

»Für meine Rettung, du Idiot. Das Messer kam auf mich zu, falls du es nicht bemerkt hast.« Lotty spielte beleidigt, als ob Kubak ihr etwas weggenommen hätte. »Oder hast du ...«

»Ich hab das Messer gesehen und wie es auf uns zukam und ... Das war wohl mehr ein Reflex.«

»Hm.« Lotty fuhr sich durchs Haar. »Ich weiß nicht, ob ich das gut oder schlecht finden soll.«

»Wie meinst du?« Kubak bemerkte, dass er alles wieder viel zu spät begriff. Lotty hatte wissen wollen, ob ihm etwas an ihr lag, da er seine Gesundheit für sie aufs Spiel gesetzt hatte. Wenn er sie hätte rumkriegen wollen, hätte er wohl etwas anderes antworten müssen.

»Nichts.«

»Nein, tut mir leid. So war das nicht gemeint.«

»War was nicht gemeint?«

Jetzt stell dich doch nicht absichtlich blöd, dachte Kubak. Ihm lagen wieder mehrere patzige Antworten auf der Zunge, doch dieses Mal hatte er das Gefühl, dass Lotty es ernst meinte und dass er in diesem Moment entscheiden konnte, ob Lotty und er sich niemals wiedersehen oder gute Freunde werden würden. »Ich wollte dich nicht kränken, Song«, entschied er sich. Als sie ihren Namen hörte, blieb sie stehen. Es war Kubak unnatürlich vorgekommen, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen, doch er wusste, dass sie dadurch verstehen würde, dass er es ebenfalls ernst meinte. »Aber ich glaube, wenn mein Unterbewusstsein entschieden hat, meine Hand zu opfern, dann sollte ich diese Entscheidung nicht anzweifeln. Es weiß sicherlich besser über mich Bescheid als ich selbst.«

»Ich schätze ...« Lotty schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte. »Ich schätze, mehr ist von dir nicht zu bekommen, was?«

»He, wir kennen uns erst doch seit gestern. Oder hast du das vergessen?«

Lotty sah Kubak eigenartig an, doch ihr Blick ging durch ihn hindurch. Schließlich nickte sie. »Ich ... ich glaube schon. Mir kommt es so vor, als wäre es mehr als nur ein Tag gewesen. Fühlt sich eher an wie ein halbes Jahr. Eigenartig.« Sie fuhr sich erneut durchs Haar und lächelte. »Aber ich schätze, ich sollte mein Unterbewusstsein da nicht in Frage stellen.«

 

Nichts wäre Kubak im Moment so zuwider gewesen wie sich in sein Zimmer zu verkriechen, sich auszuruhen und auf den nächsten Tag zu warten. Es war ihm egal, wie angeschlagen er war. Er war wütend, und er glaubte, dass sich die Wut erst wieder legte, wenn er den Grund für das ganze Chaos im Hotel herausgefunden hatte.

Lotty erinnerte ihn daran, dass eines der Stichworte, das sie mehrmals gehört hatte, das große Finale war, ein Kunstwerk, das – allen Widrigkeiten zum Trotz – an diesem Abend vorgestellt werden sollte und vermutlich von dem Künstler stammte, der sich selbst Oktober nannte. Eben diesen Oktober versuchten die beiden ausfindig zu machen. Da sie von herumstreunenden Künstlern und Reportern keine Hilfe erwarteten, schlenderten sie ins Foyer und traten an die Rezeption. Außer ihnen und dem Rezeptionisten war niemand anwesend.

»Was ... äh ... kann ich für Sie tun?« Der junge Mann wirkte beunruhigt. Wahrscheinlich erkannte er Kubak und Lotty als die Unruhestifter wieder, doch Kubak war es müde, ein weiteres Plädoyer für seine Unschuld zu halten. Vielleicht war es in diesem Fall auch gar nicht so verkehrt, wenn die Leute ein gewisses Bild von ihm hatten.

»Können Sie uns sagen, in welchem Zimmer Oktober untergekommen ist?

»Darüber darf ich Ihnen leider keine Auskunft geben.«

»Wir ermitteln im Auftrag von Mr Kilian. Es würde der Sache dienen, wenn Sie uns aushelfen könnten.«

»Dann wundert es mich, dass Sie diese Information nicht von ihm persönlich erhalten haben. Er hat Zugang zu allen internen Listen.«

»Er war mit der Meute beschäftigt und hat uns gebeten, Sie zu fragen, ob Sie uns in dieser Angelegenheit weiterhelfen könnten.«

»Netter Versuch, Mr Kubak.«

»Was heißt hier ...«

Noch ehe Kubak den Satz zu Ende sprechen konnte, sprang Lotty über den Tresen. Der Rezeptionist wusste gar nicht, wie ihm geschah, als sie ihn von dem Computer wegdrängte und ein paar Befehle in die Tastatur hackte. Der junge Mann machte Anstalten, sich zur Wehr zu setzen und die Reporterin zu vertreiben, doch letztlich wagte er es nicht. »Ich werde den Werkschutz rufen.«

»Tun Sie das«, murmelte Lotty beiläufig. »Wenn Sie Glück haben, kommt er in zwei Stunden vorbei, um sich um Ihr Anliegen zu kümmern. Bis dahin lassen Sie uns bitte machen, ja?«

»Das ist ... das ist inakzeptabel.«

»Meinetwegen. Das war’s auch schon. Zimmer 173, Kubak.« Lotty schwang sich über den Tresen zurück und hätte dabei fast den Monitor zu Boden gerissen. »Beste Grüße, Sir. Die Hotelleitung bedankt sich bei Ihnen für Ihre Kooperation.«

 

»Was glaubst du: Wie lange müssen wir in den Knast?« Kubak befürchtete, dass er die Frage ernst meinte. »Reichen zwei Jahre?«

»Unsinn, Kubak. Wir haben nichts Schlimmeres verbrochen als die anderen. Ich nehme an, sobald wir unten sind, werden die meisten leugnen, irgendwas Schlimmes getan zu haben. Von den ganzen Vorfällen hätten sie ja kaum was mitbekommen, werden sie sagen. Sie hätten die ganze Zeit auf ihrem Zimmer verbracht und ferngesehen. Was, ein Mord? Davon hab ich ja gar nichts mitbekommen, oh mein Gott!«

Kubak lächelte. »Und du meinst, das sollten wir auch machen?«

»Naja, für den vorzeitigen Artikel werde ich mich wohl verantworten müssen, und du wirst etliche Fragen über Harry DaBakia beantworten dürfen. Aber du hast es ja selbst gesagt: Du hast nur ein Bier mit ihm getrunken. Dass du verprügelst und beinahe abgestochen wurdest, das war ja nur eine unerwünschte Nebenwirkung.«

»Richtig. Du, sag mal ...«

»Ja?«

»Deine Chefin drückt dir schon die meiste Arbeit ab, oder? Ich meine, so routiniert, wie du heute Nacht den Artikel runtergezogen hast, machst du das regelmäßig.«

»Schlau erkannt, Kubak. In der letzten Zeit habe ich fast alle ihre Aufgaben übernommen.«

»Aber du machst mir nichts den Eindruck, als würde dich das stören.«

»Tut es auch nicht. Ist mir sogar lieber so, sofern ich irgendwann so ende wie sie.«

»Übergewichtig?«

»Vollidiot. Als Chefin natürlich, mit einem Assistenten unter mir, dem ich alle meine Arbeiten abdrücken kann, und ich sitze in meinem Sessel und lasse nur dann und wann einen guten Ratschlag raus.« Lotty zögerte. »Und du ... wolltest eigentlich etwas anderes werden, stimmt’s?«

»Ja, am liebsten eine Katze.«

»Kubak!«

»Ist ja gut. Ja, irgendwie ist dieser ganze Reporterkram nichts für mich. Mein Chef kann mich nicht leiden, weil meine Artikel mies sind, und ich kann meinen Chef nicht leiden, weil er ein Arschloch ist. Damit sind wir quitt.«

»Gibt’s keine Alternativen für dich?«

»Wollen wir nach dem Wochenende gemeinsam was essen gehen?«

»Ist ... das deine Alternative?«

»Nein. Ich wollte nur sehen, wie du reagierst. Und du hast nicht spontan nein gesagt, also bist du nicht völlig abgeneigt.«

»Bin ich auch nicht. Wusstest du, dass Miss Chelsea schon lange nach einem Mann fürs Leben sucht?«

»Ich glaube, wir sind da.«

 

Kubak klopfte. Keine Antwort. »Wahrscheinlich ist er gar nicht da.« Er klopfte noch einmal.

Lotty presste ihr Ohr gegen die Tür und lauschte ein paar Sekunden lang in den Raum hinein. »Ich höre was«, flüsterte sie. »Da ist jemand drin.«

Kubak klopfte ein drittes Mal. »Oktober! Wir möchten mit Ihnen sprechen. Ein Interview führen.«

»Wer sind Sie?«, rief er von drinnen.

»Konrad Kubak vom MOCCA und Song Pinkerton vom Art Explorer.«

»Ich gebe keine Interviews.«

»Sehen Sie? Sie haben Vorbehalte uns gegenüber. Aber wir ...« Mit einem Mal verlor Kubak die Fassung. Blut schoss ihm in den Kopf. Er dachte an den Messerstecher und an die Wut, die in ihm gebrannt hatte. Kubak nahm Anlauf und warf sich mit voller Wucht gegen die Tür. Es knackte.

»Hören Sie auf, oder ich rufe den Werkschutz.«

»Der Werkschutz scheißt auf Sie, Oktober!«, brüllte Kubak, als er erneut gegen die Tür prallte. Diesmal sprang sie auf.

Oktober hatte sich ins hinterste Eck gekauert. Panisch griff er nach dem Hörer des Telefons, das neben ihm in einem Wandschrank lag. Kubak sprang zu ihm hin, riss ihm das Mobilteil aus der Hand und schleuderte es gegen die Wand. »Tun Sie mir nichts«, stammelte Oktober.

Kubak spürte, wie Lotty ihn sacht zurückzog. Er ließ sich darauf ein. »Ich will Ihnen nichts tun, Oktober.« Kubak schrie immer noch. »Ich will doch nur ein paar scheiß Antworten.«

»Aber ich weiß doch gar nichts. Ständig wollen die Leute irgendwas von mir wissen, dabei hab ich keine Ahnung. Von gar nichts. Ich weiß nicht, wieso hier alle plötzlich durchdrehen, ich weiß nicht, wieso ich überhaupt zu dieser dämlichen Veranstaltung gekommen bin, und ich weiß nicht, wie hier im Hotel Schwerkraft erzeugt wird. Aber das ist mir auch alles egal. Ich will nur hier runter.« Oktober war weinerlich. Auf einmal kühlte Kubak schlagartig ab, und der junge Mann im Pyjama, der da vor ihm auf dem Boden saß und sich gegen den Wandschrank drückte, tat ihm leid. Er ließ sich von Lotty zur Seite drängen. Die ging vor Oktober in die Hocke. »Wir haben nur ein paar Fragen«, versuchte sie es erneut. Sie klang so nett, dass Oktober sich allmählich beruhigte und nickte. »Sie wissen, was hier im Hotel geschehen ist, ja?«

»Diesen Störenfried DaBakia hat’s erwischt, ja.«

»Sie kannten ihn?«

»Nein, nein, überhaupt nicht. Das Problem war doch, dass er anscheinend mich kannte; weiß der Teufel, woher.«

»Wie meinen Sie das?«

»Und ich bezahle ja auch für die Bilder, die ich kaputt gemacht habe. Aber es war einfach nicht fair von ihm.«

»Was für ... was für Bilder?«

Kubak schaltete sich ein. »Ja, da hing ein Bild vor DaBakias Zimmer nicht mehr an seinem Platz. Die Mauern des Sartorius

»Ja, von denen rede ich. Es gab noch ein paar andere.«

»Was passte Ihnen an den Bildern denn nicht?«, fragte Lotty.

Oktober seufzte. »Alles. Der Name und der Inhalt, um etwas genauer zu sein. Wenn ein paar spitzfindige Reporter sich die Bilder ausgiebig angesehen hätten, dann wären ihnen früher oder später die zahllosen Referenzen zu meinen Werken aufgefallen. Sie hätten eine Verbindung zu mir gesucht.«

»Und sie in dem Namen gefunden? Sartorius?«

»Ja. Ephraim Sartorius. Das bin ich. Und wenn Sie das in Ihre Kunstblätter schreiben, verklage ich sie. Ich habe Anrecht auf einen Künstlernamen und auf eine geheime Telefonnummer und überhaupt auf eine Privatsphäre. Wieso will denn jeder ständig wissen, was ich in meiner Freizeit so alles mache? Ich gehe einkaufen und Billard spielen, und ab und zu habe ich Sex mit meiner Frau. Wen interessiert’s?«

»Also haben Sie ...«

»Ich hab die Bilder abgerissen, zerstört und in die Mülltonne gestopft. Aber das war’s. Mehr habe ich in diesem fliegenden Irrenhaus nicht gemacht. Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann hätte ich jetzt gerne etwas Ruhe vor der hoffentlich letzten Veranstaltung hier.«

»Sie meinen das große Finale?«

»Ja. Ich hoffe, es lohnt sich. Wenn nicht, verklage ich den ganzen Laden hier noch obendrein.«

»Das heißt, das große Finale ist nicht von Ihnen?«

»Nicht dass ich wüsste, nein. Ich habe absolut keine Ahnung. Aber es muss etwas Großes sein.«

»Wieso?«

»Es findet im Ballsaal statt. Der Raum hat nicht die Magie des Restaurants, da er sich auf der erdabgewandten Seite befindet. Die Erde an sich vorbeiziehen zu sehen, ist doch das Beste hier. Ich schlussfolgere also: Man benötigt eine große freie Fläche, wie sie ein Ballsaal eben bietet.« Oktober blickte zu Lotty und Kubak auf. »War’s das?«

»Allmählich verstehe ich überhaupt nichts mehr.« Kubak knabberte an seinen Fingernägeln. »Welches Ziel hat DaBakia verfolgt?«

»Hast du dich wieder beruhigt?«

»Ja, es geht. Tut mir leid.«

»Ich fand’s gut.«

»Dann bist du die erste.« Kubak überlegte. »Heißt das jetzt, du gehst mit mir was essen?«

»Nur wenn du herumbrüllst und den Kellner verprügelst.«

»Ich denke, das lässt sich einrichten.«

Kilians Stimme erklang in den Fluren. »Achtung, Achtung«, tönte es aus den Lautsprechern. »Die Blue Planet Bar hat ab sofort wieder geöffnet. Alle Getränke bis zu siebzig Prozent reduziert.« Kubak erwartete, dass auf einmal Menschenmassen aus den Zimmern in Richtung der Bar strömten und den Anschein erweckten, sie seien aus einer verschütteten Mine gerettet worden. Doch anscheinend besaß niemand seinen Sinn für Komik.

»Die Preise«, brummte Lotty. »Die Preise sind reduziert. Nicht die Getränke.« Sie funkelte Kubak an. »Sollen wir uns jetzt endlich DaBakias Sachen holen?«

 

Kubak befürchtete, noch eine weitere Tür aufbrechen zu müssen – als ob er seinem Körper heute noch nicht genug zugemutet hätte. Doch es kam anders als erwartet. Als Lotty und er in den Flur einbogen, auf dem Llamar Harris' Zimmer lag, fanden sie die Tür bereits offen vor. Sie nickten sich zu, um sich zu bedeuten, dass sie wie zufällig daran vorbeischlendern und so wenig Aufmerksamkeit auf sich lenken wollten wie möglich. Harris konnte sich ja wahrscheinlich denken, was die beiden hier suchten. Doch es war nicht der Barkeeper, der auf dem Bett saß und sich über ein Sketchbook beugte.

»Mr Haddon?«

Haddon schreckte auf und blickte die beiden Besucher nervös an. Kubak spürte, wie dem Unternehmer eine Batterie an Ausreden auf der Zunge lag. Doch er schien keine davon zu benötigen: »Ah, Mr Kubak, Miss Pinkteron. Ich sehe, Sie hatten dieselbe Idee. Dann, vermute ich, liegt Ihnen wenig daran, mich bei Kilian anzuzeigen.«

»Wir ... nein, in der Tat. Darf ich Sie fragen, was Sie hier suchen?«

»Dasselbe, was Sie zu suchen vorhatten, wie ich annehme. Harry DaBakias persönliche Gegenstände.«

»Wir sind Reporter. Es ist unsere Aufgabe, in den Sachen anderer Leute herumzuschnüffeln. Aber Sie? Sind Sie nicht als Gast hier?«

»Durchaus, Mr Kubak, durchaus. Allerdings ... seit ich gestern mit Harry gesprochen hatte, bekomme ich ihn nicht mehr aus dem Kopf. Es lässt mich nicht in Ruhe, und ich will wissen, was er vorgehabt hatte. Da schien mir sein Sketchbook am sinnvollsten.«

»Ist es nicht passwortgeschützt?«

»Nein.«

»Wie ich mir dachte«, erklärte Lotty. »Er wollte, dass man es findet. Er wollte, dass der Werkschutz es findet. Vielleicht hat er dem Barkeeper sogar den Auftrag gegeben, das ganze Zeug weiterzureichen.«

»Möglich.« Haddon zeigte auf einen prall gefüllten Reisekoffer. »Er hatte noch mehr Zeug dabei.«

Kubak zog eine Bierflasche in einer Klarsichttüte hervor. »Was soll das sein? Sieht aus, als hätte er Spurensicherung betrieben.«

»Spuren von was?«, fragte Lotty. »Oder von wem? Er hat Fingerabdrücke auf der Flasche sichtbar gemacht. Damit müssten wir eigentlich herausfinden können, auf wen er es abgesehen hatte. Ich bin mir sicher, der nette junge Mann an der Rezeption lässt uns seinen Scanner benutzen. Die Fingerabdrücke sind ja allesamt erfasst.«

»Damit ließe sich vielleicht klären, wer DaBakia auf dem Gewissen hat«, führte Haddon den Gedanken aus.

»Nur beschränkt«, widersprach Kubak. »Prinzipiell ist jeder verdächtig, der Opfer von Harrys Aktionen geworden ist. Nur die hatten ein Motiv. Das aber bestimmt ein paar.«

»Ich will Sie ja nicht entmutigen ...« Haddon zeigte auf den Bildschirm des Sketchbooks. »Aber sehen Sie mal da.«

Kubak lehnte sich über Haddons Schulter. Der hatte einen Ordner geöffnet, den er mit ›Datensammlung ComCult 2039‹ überschrieben hatte. Darin befanden sich – nebst einigen losen Dateien – rund fünfzig Unterordner: Nachname, Vorname; alphabetisch sortiert. Haddon klickte sich in einen der Ordner hinein. Harry hatte penibel Zeitungsausschnitte gesammelt und katalogisiert: Auftritte, Rezensionen, Kolumnen, Gerüchte und Peinlichkeiten aus dem Leben jedes einzelnen Künstlers, dazu Notizen darüber, wie Harry ihnen im Hotel das Leben schwer machen wollte.

Kubak schluckte. Harry hatte anscheinend nicht vorgehabt, irgendjemanden zu verschonen. Fast alle waren Opfer und damit auch mögliche Täter. Das Schlimme daran war, fand Kubak, dass er sich selbst nicht mehr sicher war, ob er ihnen das übelnehmen konnte.

 

Teil 8

Zerstörer

 

»Entschuldigen Sie?« Die fremde Stimme ließ Kubak, Lotty und Haddon aufspringen. Eine junge Frau in Bedienstetenuniform stand vor der Tür, beugte sich hinein und suchte nach jemandem, der nicht da war. »Was haben Sie in Mr Harris’ Zimmer zu suchen?« Kubak sah ihr an, dass sie nicht wusste, welchen Ton sie anzuschlagen hatte. Es war offensichtlich, dass er, Lotty und Mr Haddon sich unrechtmäßig in diesem Zimmer aufhielten. Eigentlich hätte die junge Frau sie hochkant nach draußen befördern müssen, doch vielleicht wollte sie kein Risiko eingehen. Also blieb sie ruhig und sachlich. »Sie haben keine Befugnis, sich hier aufzuhalten. Bitte verlassen Sie sofort ...«

»Aber junge Dame, hier ist alles in bester Ordnung.« Haddons Zahnreihe strahlte schneeweiß. Er ging auf die Bedienstete zu und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Wir haben bei Mr Harris ein paar unserer Wertsachen hinterlegt und holen sie nun zurück. Wir haben seine volle Zustimmung. Er ist ja gerade sehr beschäftigt.«

»Mr Haddon, verzeihen Sie, aber es macht den Eindruck, dass Sie ...«

»Aber das macht doch nichts, Fräulein. Kann ja mal vorkommen.«

»Aber ...«

Haddon nickte Lotty und Kubak selbstsicher zu. Die packten DaBakias Sachen zusammen und stahlen sich an Haddon vorbei auf den Gang. Haddon schloss die Tür hinter ihnen. »Sehen Sie, Fräulein. Alles in bester Ordnung.« Er lächelte noch einmal charmant, wandte sich ab und schob Kubak und Lotty den Gang entlang. Als Kubak einen letzten Blick zurück warf, stand die Bedienstete noch immer ganz verdattert vor dem Zimmer des Barkeepers.

 

»Reizend, dass Sie bei uns vorbeischauen, Mr Haddon.« Miss Chelsea war hin und weg, als Kubak und Lotty den jungen Unternehmer mit auf ihre Suite brachten. Sie hatte auf dem Bett gelegen und in einem Buch geschmökert. »Ich hatte ja den Eindruck, dass Sie eine dieser unnahbaren Gestalten seien.«

»Beileibe nicht, Madam.« Er verneigte sich zur Begrüßung. »Ich bin ein Mensch wie Sie.«

»Mit dem Unterschied, dass Sie ein riesiges Unternehmen führen«, wandte Lotty ein. »Und ein beträchtliches Vermögen auf dem Konto haben.«

»Wenn Sie das sagen, klingt das ganz so, als hielten sich mich für einen missgünstigen Geizhals, der die Löhne seiner Mitarbeiter drückt, um selbst den großen Reibach zu machen.« Er feixte. »Dabei habe ich dieser netten jungen Dame gerade eben einen Hunderter zugesteckt. Würde ein missgünstiger Geizhals so etwas tun?«

»Sie haben ...?«

»Nun stellen Sie sich nicht so verblüfft, Fräulein, sondern holen Sie DaBakias Sketchbook heraus. Wir wollen uns ein detaillierteres Bild davon machen, was für Daten er darauf angesammelt hat.«

»Von allen?«, schnaubte Kubak. »Dafür bräuchten wir Wochen.«

»Na gut, nicht von allen. Wir nehmen uns nur die Wichtigen vor, also die großen Künstler, die etwas zu verlieren haben.«

Lotty schaltete das Sketchbook ein; der Ordner ›Datensammlung ComCult 2039‹ erschien wieder auf dem Schirm. »Schön. Kann ich euch damit kurz alleine lassen. Ich möchte mir DaBakias andere Sachen ansehen.«

Während Haddon und Kubak die Liste durchgingen und bei jedem Eintrag diskutierten, ob er es wert sei, markiert zu werden, stellte sich Kubak die Frage, wieso sie so leichtfertig mit Haddon plauderten und ihn in das Geschehen mit hineinzogen. Überhaupt: Was wollte er? Seine Neugier befriedigen? Oder hatte er etwas anderes im Sinn?

Bald erhob sich Miss Chelsea und blickte ihnen über die Schultern. »Meine Herren, Sie haben gesehen, dass Mr DaBakia auch Ordner für die werten Kollegen von der Presse eingerichtet hat?«

»Ehrlich gesagt, nein«, antwortete Haddon.

»Das macht die Sache nicht gerade einfacher für uns.« Kubak stöhnte. »Harry dürfte vielen Presseleuten schon lange ein Dorn im Auge gewesen sein.«

»Macht es das nicht einfacher? Bei diesen Leuten hätten wir dann wenigstens bereits ein Motiv.«

»Das ist wahr. Markieren Sie auch gleich Rob Boss. Der Kerl ist gemeingefährlich. Wenn Sie sich die ganze Zeit gefragt haben, was mit meiner Hand passiert ist: Das war er.«

»Nicht wahr«, raunte Lotty nebenbei. »Es war einer seiner Stammtischbrüder.«

»Das ...« Kubak dachte kurz nach. »Stimmt. Du hast Recht.« Er fragte sich, wieso seine Erinnerung ihn trog. Wieso hatte er die Schuld des einen auf Rob Boss übertragen? Weil er von den dreien der einzige war, den er gekannt hatte? Was, wenn auch Harry jemand auf dem Gewissen hatte, der überhaupt nicht in seiner Liste stand? Was, wenn es gar nichts mit DaBakias Zerstörung zu tun hatte?

Lotty indes hatte vorsichtig die Bierflasche aus der Klarsichthülle genommen und vor sich auf den Tisch gestellt. Sie begutachtete den sichtbar gemachten Fingerabdruck und schien zu überlegen, wie sie ihn auf ein Blatt Papier übertragen konnte.

Doch dazu kam es ohnehin nicht mehr. Der Werkschutz stürmte das Zimmer, angeführt von einem grimmig dreinblickenden Holligan. Lotty wich instinktiv zurück. Sie hatte heute schon einmal eine unangenehme Begegnung mit diesen Herrschaften gemacht.

Kubak spürte die Aggression, die in Holligan wütete, und er zweifelte nicht daran, dass er gewalttätig geworden wäre, wenn der Anblick von Alfred Haddon ihn nicht zurückgehalten hätte. »Mr Haddon!« Es war ein lupenreiner Vorwurf. »Was zum Teufel machen Sie denn hier? Das ... das ist ... ich bin entsetzt!«

»Hätten Sie vielleicht die Güte, sich vorzustellen?«

»Walter Holligan. Werkschutz.«

Kubak verschränkte die Arme. »Kommen Sie, um die Tür zu reparieren?«

»Wir kommen, um die Diebesbeute zu beschlagnahmen. Sie wurden uns von einer der Bediensteten des Hotels einwandfrei beschrieben.« Er wandte sich an seine Männer. »Nehmt das Zeug mit!« Dann schritt er auf Kubak zu und drohte ihm mit dem Finger. »Ich werde nicht müde, es zu wiederholen: Sobald wir wieder festen Boden unter den Füßen haben, wandern Sie in den Knast, Kubak. Und Sie auch, Fräulein.« Er taxierte Lotty. »Ich hätte nicht erwartet, dass Sie sich von diesem Tunichtgut hier zu einem Einbruch verführen lassen. Ich würde sie alle einsperren, wenn wir noch Platz dafür hätten. Oder Personal.«

»Wenn ich einlenken darf, Mr Holligan.« Haddon klang kein bisschen aufgebracht. Wahrscheinlich hatte er das jahrelang eingeübt, dachte Kubak. »Es waren nicht diese netten Herrschaften von der Presse, die in das Zimmer von Mr Harris eingebrochen sind, sondern ich.«

»S-Sie?«

»So ist es. Ich handelte in dem Glauben, dass Gefahr im Verzug sei.«

»Gefahr im Verzug?«

»Die gegenwärtige Situation im Hotel bestätigt, dass unter den Gästen große Unruhe herrscht, die bis zur Aggression führt. Meine beiden Freunde hier haben dies allein heute in mehreren Fällen zu spüren bekommen. Die Lösung der Situation sehe ich klar in der Aufklärung des Falles Harry DaBakia, da ich – verzeihen Sie meine Direktheit! – Schleuderpreise in der Bar nicht für eine sinnvolle Maßnahme zur Gewaltprävention halte. Da Sie nun aber, wie Sie selbst eingeräumt haben, nicht über das Personal verfügen, sich sowohl um die akute Gefahr als auch um die Aufklärung des Falles zu kümmern, habe ich mir erlaubt, Sie in diesem Belang zu unterstützen. Und dies ist auch das einzige, was ich mir vorzuwerfen habe.«

Holligans Kinnlade war nach unten geklappt. Es war ihm anzusehen, dass er Haddons Ausführungen für eine Frechheit hielt, doch er traute sich nicht, ihn anzublaffen. Stattdessen winkte er seinen Männern zu, ihm zu folgen. »Wir bedanken uns bei Ihnen für ihre Hilfe, Mr Haddon.« Holligan klang nach Gift und Galle. »Dies ist jedoch nicht nötig, und wir bitten Sie, nun davon Abstand zu nehmen. Kommt!« Harrys Habseligkeiten unter den Armen, verließ der Werkschutz das Zimmer.

»Was für ein Stinkstiefel«, kommentierte Haddon. »Das war es wohl mit unseren Nachforschungen.«

»Nicht ganz.« Lotty prostete mit der Bierflasche in die Runde. »Die hier haben sie übersehen. Dachten wahrscheinlich, es sei meine.«

»Und was sollen wir damit tun, Schätzchen?«, fragte Miss Chelsea. »Möchten Sie jeden Gast um einen Fingerabdruck bitten?«

»Das ist gar nicht nötig. Ich weiß, wer uns dabei helfen kann.«

 

Der Rezeptionist verdrehte nur die Augen, als er Lotty und Kubak sah. »Nicht Sie schon wieder.« Er griff zum Telefonhörer. »Bevor Sie mich ein zweites Mal belästigen, rufe ich lieber gleich den Werkschutz.«

Noch ehe der junge Mann einen Knopf drücken konnte, hockte Lotty über den Tresen und riss den Rezeptionisten zu Boden. »Sie bleiben liegen, ist das klar?« Dann tippte sie etwas in den Computer ein. Der Rezeptionist hatte sich aufgesetzt und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf. Er traute sich wohl nicht, sich gegen Lotty zur Wehr zu setzen. Es dauerte nicht lange, bis ein Signal ertönte und Lotty den Fingerabdruck der Flasche gegen ein Lesegerät drückte. »Hoffentlich funktioniert das so.« Keine drei Sekunden später piepte es. Lotty blickte auf den Bildschirm. »Da haben wir’s ja. Na so was! Interessant.« Sie sprang zurück und nickte dem jungen Mann zu, der immer noch verschüchtert auf dem Boden saß. »Danke für Ihre Mitarbeit. Komm, Kubak!«

Zufrieden tippelte sie davon, doch Kubak folgte ihr zuerst nicht. Er stand einfach nur da. Etwas passte ihm nicht, doch er konnte nicht genau greifen, was es war.

»Ist was, Kubak?«

»Nein, nein, alles klar«, stammelte er gedankenverloren, schüttelte den Kopf und trabte los. »Gehen wir.«

 

»Dimitrios Barakis?!« Miss Chelsea konnte es nicht fassen. »DaBakia hat sich den Fingerabdruck von Dimitrios Barakis besorgt? Das ist eigenartig.«

»Wieso?«, fragte Lotty.

»Weil er auf seinem Sketchbook keinen Ordner für Barakis angelegt hatte, was mich ohnehin schon verwundert hat, denn über einen Mann wie Barakis gibt es sicherlich einiges zu erzählen.«

»Das ist wahr.«

Eine Weile saßen sie schweigend da. Haddon knabberte an seinen Fingernägeln; ihn schien etwas zu beschäftigen.

»Ich habe beim Überfliegen der Ordnernamen noch etwas Interessantes entdeckt«, begann nach einer Weile Miss Chelsea. Sie rieb sich die Stirn, als ob sie sich die Erinnerungen an die Oberfläche massieren wollte. »Es gab einen Ordner, der ›Lausanne‹ hieß.«

»Lausanne?«, fragte Kubak. »Wer ist das?«

»Eine Stadt in der Schweiz, Kubak. Sie als Deutscher sollte das wissen.«

»Was hat das denn damit zu tun? Natürlich kenne ich Lausanne. Liegt am Genfer See und ... was ist denn damit?«

»Sie meinen den Lynchmord vor fünf Jahren, Miss Chelsea?«, fragte Haddon.

»Genau. Den Mord an ... wie hieß er doch gleich? Ich weiß es nicht mehr, aber selbst wir hatten darüber berichtet.«

»Ich bin nicht mehr im Bilde«, gestand Kubak.

Miss Chelsea ächzte verständnisvoll und setzte an: »Es war ein Mann Anfang zwanzig. Er wurde auf offener Straße von einem Mob umzingelt und getötet.«

»Weshalb?«

»Man hatte ihn wiedererkannt. Er hatte sich kurz zuvor dazu bekannt, ein geklonter Mensch zu sein – in einer Talkshow. Die Reaktionen waren dementsprechend. Er wurde noch in der Sendung ausgepfiffen, und es wäre fast zu einer Schlägerei gekommen. Daraufhin hielt er sich eine Weile bedeckt, aber das hat ihm offensichtlich nichts genützt. Die Leute sahen in ihm ein Verbrechen gegen die Natur. Also haben Sie ihn ausgelöscht.«

»Aber dafür konnte er doch nichts. Er hat sich das ja wohl nicht selbst ausgesucht.«

»Nein, hat er nicht, und die Sache hatte natürlich ein Nachspiel für alle Beteiligten. Es stellte sich heraus, dass die Aktion von einer einzelnen Person ausgegangen war, einem Demagogen, der die Masse mobilisierte. In anderen Staaten gab es Nachahmer: Die Dunkelziffer an illegal geklonten Menschen war anscheinend doch höher, als man angenommen hatte. Die Sache wanderte durch alle Medien. Es gab kaum jemanden, der nicht Stellung bezogen hat: Politiker, Wissenschaftler, Menschenrechtler oder eben auch Künstler. Es entstanden einige Karikaturen und Gemälde zu diesem Vorfall; deshalb haben wir vom Art Explorer indirekt auch darüber berichtet.«

»Volksverhetzer«, raunte Lotty. »Klingt nach Harry DaBakia.«

»Meinst du?«, fragte Kubak.

»Sähe ihm nicht unähnlich, oder?«

»Also, ich weiß nicht ...«

Zum zweiten Mal in kurzer Zeit stürmte der Werkschutz die Suite. Diesmal jedoch sah Holligan nicht so aus, als würde er sich vor Alfred Haddon zurückhalten. Seine Männer zückten Pistolen und trieben Haddon, Miss Chelsea, Lotty und Kubak in eine Ecke. »Ich muss doch sehr bitten«, begann Miss Chelsea, doch Holligan fuhr sie nur an: »Sie halten jetzt alle die Klappe.« Er schrie. Sein Kopf war krebsrot. »Es reicht. Es reicht mir einfach. Ich habe Ihre Schnüffelei lange genug untätig mit angesehen, doch erpressen lassen wir uns nicht.«

»Erpr...?«

»Tun Sie nicht so scheinheilig! Ihr Gehabe berührt mich nicht im Geringsten, und ich lasse mich dieses Mal weder durch ihre ach so großartige Reputation, ihr Geld oder sonst etwas beeindrucken. Sie bleiben hier, bis die Polizei kommt. Danach wandern Sie vor Gericht. Ende der Geschichte. Ich hätte diesen ewigen Weltverbesserer Kilian hochkant rausschmeißen und Sie alle gleich festnageln sollen, nachdem Sie diesen vermaledeiten Artikel geschrieben haben. Dann hätten wir uns viel ersparen können.«

»Aber ...«

»Und lassen Sie sich eines gesagt sein. Uns mit so einer schmutzigen Sache zu erpressen, war das Dümmste, was Sie hätten tun können. Nicht nach der Aktion an der Rezeption. Doch das hat hier ein Ende. Schultz, Galveston, Sie bleiben hier und richten die Waffen auf diese feinen Herrschaften, bis die Polizei hier ist. Ich lasse Sie heute Nacht ablösen.«

»Aber Mr Holligan«, begann Haddon, »wir wissen nichts von einer Erpressung. Für wen halten Sie uns?«

»Mir reicht’s. Ich gehe. Es ist bald sieben. Das große Finale fängt gleich an, und ich will mir nicht vorwerfen lassen, dass ich dort nicht für Sicherheit gesorgt hätte.« Er klopfte sich imaginären Staub von der Schulter. »Aber das sollte sich nun ja erledigt haben. Abscheulich, so etwas.« Holligan verschwand. Nur die zwei Sicherheitsleute Schultz und Galveston blieben, beide hochgewachsen und breit, Pistole im Anschlag.

»Können Sie uns das vielleicht erklären?« Haddon stemmte die Arme in die Seite und fixierte die beiden Wachmänner ernst. »Wir werden Ihnen keine Auskünfte erteilen«, erklärte der eine trocken. »Bitte setzen Sie sich und bleiben Sie ruhig.«

Notgedrungen folgten sie dem Befehl. Lotty und Kubak setzten sich auf das breite Fenstersims. Hinter ihnen hatte sich die Erde bereits ein gutes Stück aus dem Schatten geschält. Miss Chelsea und Mr Haddon nahmen in einer Sitzgruppe Platz. Lange trauten sie sich nicht, auch nur ein Wort auszutauschen, um Schultz und Galveston nicht zu reizen. Bald jedoch brach Miss Chelsea das Eis und begann, Theorien darüber auszuformulieren, inwiefern Harry DaBakia in den Vorfall in Lausanne verwickelt gewesen sein könnte. Den Gedanken, dass er dieser Volksverhetzer gewesen sei, verwarf sie rasch, da der ihrer Meinung nach noch immer im Gefängnis sitze. Vielleicht war DaBakia aber einer der Reporter gewesen und hatte sich zu tief in die Sache eingemischt, zu bohrende Fragen gestellt und sich damit Feinde gemacht. Vielleicht war er einer großen Sache auf der Spur gewesen. Haddon nickte nur ab und zu und ließ Miss Chelsea reden. Er schien an etwas anderes zu denken, wollte aber wohl nicht unhöflich sein.

»Du, Kubak«, begann Lotty leise, um ihre Chefin und Haddon nicht zu stören. Sie lehnte sich in Kubaks Richtung.

»Mhm?«

»Du ... du hast mich vorhin so eigenartig angesehen. Kurz nach der Sache an der Rezeption.«

»Ja, kann sein.« Kubak ließ es gewollt unwissend klingen.

»Komm, sag schon. Was war?«

»Es war nur ...« Kubak brachte plötzlich keinen Ton mehr heraus. Er schluckte, und es tat weh. »Es ist einfach alles außer Kontrolle geraten«, setzte er wieder an. »Als du den armen Kerl einfach so umgehauen hast, da hab ich ... ich fragte mich plötzlich, was wir da machen. Du hast ihm wehgetan, und ich habe nichts gesagt. Für einen Moment war mir das so selbstverständlich erschienen, und dann ... ich hab mich für was Besseres gehalten. Ich dachte, wir sind im Recht.«

»Aber ...« Nun schien Lotty auch nichts mehr sagen zu können. »Kubak, das ... das ist doch Unsinn.« Als sie bemerkte, dass er an die Decke starrte und sich bemühte, nicht zu weinen, nahm sie ihn bei der Hand. »Das ist nur die Aufregung, die sich langsam löst, Kubak. Das ist eine Stressreaktion.« Nun weinte er doch, obwohl er es nicht wollte. Lotty nahm ihn in den Arm. Großartig!, dachte Kubak. Irgendwie war alles schiefgelaufen, aus der Bahn geraten. Er dachte an die Fliege, gestern Vormittag im Blue Glider. Er hatte geglaubt, die Höhenangst sei das einzige Problem, das er im Orbit Hotel haben würde. Doch nun war die Höhenangst das einzige, was ihm keine Probleme bereitete. Er steckte in irgendeinem Schlamassel und konnte sich nicht einmal recht erklären, weshalb. Er kam sich vor wie ein Kind. Weint herum, lässt sich trösten und ...

Kubak reckte den Kopf, als habe er ein Geräusch in der Stille gehört. Da war etwas. Ein Bruchstück einer Erinnerung. »Was ist?«, fragte Lotty, so laut, dass auch Miss Chelsea und Haddon sich zu ihm umdrehten. »Haben Sie etwas, Kubak?«, fragte Miss Chelsea; er wusste nicht, ob sie sein plötzliches Aufhorchen oder die Tränen auf seiner Wange meinte.

»Das könnte es sein«, stammelte Kubak. »Das Kind.«

»Das Kind? Welches Kind?«

»Das Kind, das diese Haushälterin immer herumschiebt, diese Selene. Erinnern Sie sich an das Gedicht, das Teddy Sitch im Auftrag von Harry DaBakia vorgelesen hat? Da ging es um ein Kind.«

»Hm. Ja, Sie haben Recht. Aber was ist damit?«

»Wir haben doch auch festgestellt, dass Harry für das große Finale irgendeine Enthüllung geplant hat.«

»Richtig.«

»Außerdem ist er davon ausgegangen, dass der Werkschutz seine Sachen irgendwann findet, und hat sie deshalb absichtlich nicht gesichert, weil er wollte, dass der Inhalt lesbar bleibt. Der Werkschutz sollte also darauf stoßen, was er vorhatte.«

»Ja. Aber was hat das Kind damit zu tun?«

Kubak beugte sich vor. »Könnte es nicht ... na ja ... ein Klon sein?«

Alle starrten Kubak an. »Das Kind. Ein Klon? Von wem? Barakis?«

»Wieso nicht? Er hätte doch sicherlich das Geld dazu.«

»Aber ... aber wie kommen Sie darauf?«

»In dem Gedicht stand doch auch noch etwas von einem Vater und einem Bruder. Das ist Barakis. Das Kind ist ja irgendwie er, also in gewisser Weise sein Zwillingsbruder, aber trotzdem doch auch irgendwie sein Kind, oder?«

»Sie sind verrückt, Kubak.«

»Für jemanden, der von dem geklonten Kind weiß, war das Gedicht sicherlich leicht zu verstehen. Man muss ja auch davon ausgehen, dass dem Veranstalter bekannt war, welches Gedicht Teddy Sitch eigentlich vortragen wollte. Als Barakis den Braten roch, setzte er den Werkschutz auf alle an, die ihm verdächtig erschienen: DaBakia, weil er der Urheber der ganzen Aktion war, Teddy Sitch, weil er das Gedicht vorgelesen hatte, und mich, weil ich in DaBakias Zimmer herumgeschnüffelt hatte.«

»Wissen Sie, Kubak, das klingt gar nicht so falsch.«

»Und wieso sollte er einen Ordner über den Lausanne-Fall angelegt haben, wenn die Sache nichts damit zu tun hätte? Er ist ja davon ausgegangen, dass der Werkschutz die Unterlagen irgendwann findet.«

»Aber das ist Wahnsinn«, lenkte Lotty ein. »Wenn man die Geschichte in Lausanne bedenkt, dann ... das hieße doch, dass DaBakia für seine Enthüllung die Gesundheit des Kindes aufs Spiel gesetzt hat.«

»Scheint so. Ein Zerstörer.«

»Abscheulich.«

»Abscheulich?« Kubaks Gedanken rotierten. Das Wort hatte er doch vorhin schon einmal gehört. Richtig. Holligan hatte es in den Mund genommen, kurz bevor er verschwunden war. Es war klar an sie gerichtet gewesen. Abscheulich. Erpresser.

»Natürlich. Oder findest du das nicht, Kubak?«

»Was? Doch, doch, klar. Aber ich dachte gerade ... ich glaube, wir sind nicht die einzigen, die die Sache herausbekommen haben. Holligan hat doch was von einem Erpresser erzählt. Anscheinend will jemand die Sache ausnutzen. DaBakia hat auf seiner Tonaufzeichnung ja auch erklärt, dass seine Anwesenheit beim großen Finale nicht mehr nötig sei.«

»Darum wird sich Holligan schon kümmern, so wie der drauf war.«

»Eben nicht. Er hatte uns doch im Verdacht.«

»Scheiße, ja.«

Haddon stand auf. »Dann müssen wir etwas unternehmen. Wir müssen Holligan Bescheid geben.« Er wirkte entschlossen. Sein selbstsicherer Blick schenkte Kubak Hoffnung. Er erhob sich ebenfalls und glaubte für einen Moment, sie hätten leichtes Spiel. Doch was, wenn Holligan ihnen nicht glaubte? Oder wenn sie zu spät kämen?

Kubak schielte zur Tür. Schultz und Galveston hatten ihre Waffen noch immer auf Haddon, Miss Chelsea, Lotty und ihn gerichtet. Kubak schluckte. Oder was, wenn es ihnen nicht einmal gelang, die Suite zu verlassen? Er blickte auf die Wanduhr: kurz nach sieben.

 

Letzter Teil

Der Atem der Welt

 

»Verschwinden Sie! Verschwinden Sie alle!« Teddy Sitch wedelte mit der Pistole zum Ausgang. »Alle bis auf Sie, Kubak. Sie werden hier bleiben.« 

Neben Kubak und Lotty befanden sich noch ein paar andere im Saal, die wie versteinert auf die Waffe starrten. »Nun los!«, brüllte Sitch. Er richtete die Pistole hinter sich und drückte ab. Im selben Moment flammten über den Türen rote Lichter auf. »Achtung, Achtung!«, ertönte eine Ansage über Lautsprecher. »Bitte verlassen Sie den Raum. Die Türen schließen in zwei Minuten. Bitte verlassen Sie den Raum.« 

»Haben Sie’s nicht gehört?«, fluchte Sitch. »Oder soll ich nochmal auf die Scheibe schießen?« Er machte Anstalten abzudrücken. Nun reagierten sie doch und machten sich davon. Nur Kubak und Lotty blieben zurück; sie hielt seinen Arm fest umklammert. »Na geh schon!«, zischte Kubak. »Mit dem werd ich alleine fertig.« Es sprach sich leichter als gedacht. »Schwing keine Reden, Kubak«, flüsterte Lotty. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dich ein Exklusivinterview mit dem ersten Mörder im Weltall machen lasse.« 

»Es besteht die Gefahr, dass es dein letztes Interview sein wird.« 

Der Alarm verstummte. »Achtung! Die Türen schließen.« Die Flügel der Türen schwangen automatisch ins Schloss zurück. Es klackte. Dann senkte sich ein metallischer Vorhang aus der Zarge und versiegelte den Raum. 

»Nun ist es ohnehin zu spät«, flüsterte Lotty. 

»Showdown im Weltraum!« Teddy Sitch lachte, als er von der Bühne sprang. Mit gezückter Waffe schritt er auf Kubak und Lotty zu. Die wichen langsam zurück, als ob die Pistole dadurch weniger gefährlich wäre. »Klingt das nicht wie eine großartige Schlagzeile, Kubak? Erste Seite, ganz groß?« 

»Für solcherlei Kitsch habe ich nichts übrig, Sitch.« 

»Und doch hast du nichts anderes im Sinn als Chaos und Zerstörung, Kubak. Da bist du keinen Deut besser als DaBakia. Du ruinierst andere und ziehst selbst Nutzen daraus. Na, ich kann dir das nicht vorwerfen. Du bist Reporter, ebenso wie Harry es war. Aber du musst dann eben auch mit den Konsequenzen leben.« 

»Und was sind die Konsequenzen? Mich von dir erschießen zu lassen?« 

»Harry DaBakia wollte jedes einzelne Leben in diesem Hotel zerstören. Er hat es mir erzählt und gelächelt, als er mir dieses abscheuliche Gedicht in die Hand drückte.« 

»Du hast es vorgetragen, Sitch. Wieso hast du das getan, wenn dir Harrys Motive so zuwider waren?« 

»Ich ...« Sitch zögerte. 

»Inszeniere dich nicht als jemanden, der du nicht bist, Sitch. Du wolltest das Geld, das er dir gegeben hat. Es war dir egal, was Harry damit vorhatte. Vielleicht hast du es ja bereits geahnt. Aber dann standest du da oben auf der Bühne – an dem Pult. Und plötzlich fiel dir auf, wie erbärmlich es war, deine Lyrik zu opfern für so einen Mist. Man hat dir die Scham direkt angesehen, als das Publikum nur verhalten klatschte. Aber da war es zu spät. Da warst du bereits abgestempelt. Teddy Sitch, der Amateurdichter, der Schrottpoet, der ...«

 

Ein Schuss, und Kubak zuckte zusammen. Ein heller Riss zog sich über die Panoramascheibe. Kubak hatte das Gefühl, dass er sich ausbreitete; er hörte das Geräusch knackenden Eises. »Ich habe verstanden, was du mir sagen willst, Kubak, und es ist leider wahr.«

 

»Und deshalb hast du DaBakia erschossen.« 

Teddy Sitch nickte. 

»Du hast einen Wachmann niedergeschlagen, seine Pistole entwendet und dich an Harry gerächt.« 

»Harry lief mir auf dem Gang über den Weg, klopfte mir auf die Schulter und sagte, er habe schon lange kein so ergreifendes Gedicht mehr gehört.« 

»Das tat weh.«

»Ich hatte gehofft, nach seinem Tod könnte alles so werden, wie es von Anfang an sein sollte. Eine Kunstaustellung. Ich war froh, als ich bemerkte, dass es im Hotel anscheinend keinen Aufruhr wegen des Toten gab. Da wusste ich noch nicht, dass der Werkschutz DaBakia beseitigt hatte. Aber dann kamt ihr und habt dort weitergemacht, wo ich DaBakia unterbrochen hatte.«

 

Lotty ging einen Schritt auf Teddy Sitch zu. Der richtete die Waffe auf ihren Kopf; sie blieb wie angewurzelt stehen. »Das ist nicht wahr, Teddy.« Lotty schüttelte den Kopf. »DaBakia wollte die Leute ruinieren. Wir wollten nur die Wahrheit ans Licht bringen.« 

»Aber ist das nicht das gleiche? Wollte DaBakia das nicht auch? Die Wahrheit ans Licht bringen? Die Wahrheit über alles und jeden?« 

»Nein, das ist etwas anderes.« 

»Dann erklären Sie mir den Unterschied.« 

»Nun ... DaBakia ging es darum, schmutzige Details zu veröffentlichen, um andere in ein schlechtes Licht zu rücken. Bei uns ging es um ... um die Aufklärung eines Verbrechens. Um die Leute von einer Ungerechtigkeit zu informieren.« 

»Dann erklären Sie mir: Was ist Ungerechtigkeit?« 

»Zum Beispiel, wenn jemand gegen das Gesetz handelt.« 

»Also war es auch in Ordnung, die Identität eines Klones zu enthüllen, nur weil der Vorgang des Klonens gegen das Gesetz war?« 

»Nein, das ... aber das ist wieder anderes.« 

»Sehen Sie? Sie argumentieren rückwärts. Sie verachten die Vorgänge von Lausanne, weil Sie wissen, wie Sie endeten. Aber haben Sie darüber nachgedacht, welche Konsequenzen ihr Artikel über den Mord an DaBakia haben würde?« 

 

Lotty schwieg und wich einen Schritt zurück.

 

»Sehen Sie. Das haben Sie nicht. Sie dachten nur an Ihre Wahrheit und daran, dass sie in Ihrer Zeitung stehen würde. An die Opfer dachten Sie nicht. Und deshalb verdienen Sie es, hier mit mir zu sterben – ins All gesogen zu werden, wenn die Scheibe bricht.«

Teddy Sitch setzte sich auf den Rand der Bühne und ließ die Pistole von der einen Hand in die andere gleiten. Kubak überlegte, wie er der Situation entkommen konnte. 

 

Wieso kam nicht einfach der Werkschutz herein, erschoss Teddy Sitch und brächte Lotty und ihn in Sicherheit? Wieso taten sie das nicht? Wollten sie wirklich warten, bis die Scheibe bräche?

 

Wenn alles glatt lief, könnte er Sitch die Waffe vielleicht abnehmen. Er müsste nur schnell sein, die eine Sekunde ausnutzen, in der Sitch nicht begriff, was geschah. Aber was, wenn er nicht schnell genug wäre und Sitch rechtzeitig den Lauf auf ihn richtete und abdrückte? War sein Leben überhaupt noch zu retten?

 

»Eines begreife ich nicht, Sitch«, begann Kubak. 

»Ja?« 

»Wieso die Erpressung?«

 

Sitch zog die Augenbrauen zusammen. »Ich habe niemanden erpresst.« 

»Haben Sie nicht damit gedroht, Harry großes Finale durchzuziehen und alles auffliegen zu lassen?« 

»Kubak, wollen Sie mich verwirren? Wieso sollte ich so etwas tun?« 

»Eben das frage ich Sie.« 

»Wer wäre ich denn, wenn ich plötzlich DaBakias Werk fortführte? Das gäbe doch gar keinen Sinn, meinen Sie nicht auch?« 

»Ja, da haben Sie schon Recht. Aber Tatsache ist, dass jemand es vorhatte und es vielleicht auch durchgezogen hätte, wenn Alfred Haddon nicht sein Leben aufs Spiel gesetzt hätte.« 

»Ich kann nicht glauben, dass die Leute auf sein Ablenkungsmanöver hereingefallen sind. Die ganze Aufmerksamkeit auf sich selbst zu ziehen, war zu offensichtlich. Da hätte es doch jedem klar sein müssen, dass er nicht der einzige anwesende Klon im Raum war. Aber was habe ich erwartet? Die Leute sind eben einfältig und naiv.« 

»Nein, Sitch. Ich glaube, das sind sie nicht. Sie haben sehr wohl verstanden, was los war, aber es spielte keine Rolle. Heute ist nicht vor zwanzig Jahren.« 

»Ja, vielleicht. Wenn es wirklich so ist, hat Haddon mehr Glück als Verstand gehabt.« Sitch schwang sich nun ganz auf die Bühne. Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken und blickte hinauf ins All. Der Mond leuchtete noch immer. »Das ist schon ein Ding, was? Das Hotel strahlt den Neumond an. Die Technik hat vermutlich Millionen gekostet, von dem Hotel ganz zu schweigen. Was meinen Sie, Kubak: Den Mond anzuleuchten, ist das Kunst?«

 

Kubak überlegte. Er hatte das Gefühl, dass Sitch ihn auf die Probe stellte, dass er sein weiteres Tun und Lassen allein von Kubaks Antwort abhängig machte. »Kunst, was ist schon Kunst?«, so eine Antwort durfte er auf keinen Fall geben. Sitch war nicht einfältig; er würde sich nicht mit Plattitüden abspeisen lassen. »Ja. Ja, ich meine, es ist Kunst.« 

»Erklären Sie.« 

»Ich muss an die Leute denken – vorhin im Saal. Alles war ganz still, und jeder blickte erstaunt nach oben. Nun stelle ich mir vor, ich wäre nicht hier oben gewesen, sondern unten auf der Erde. Vielleicht wäre ich gerade draußen spazieren gegangen, oder ich käme spät von der Arbeit nach Hause oder wäre dabei gewesen, die Rollläden herunterzulassen, und hätte dabei diesen Mond gesehen. Vielleicht wäre ich zuerst verunsichert gewesen, vielleicht hätte ich auch Angst gehabt oder vor Freude gelächelt. Auf jeden Fall hätte ich still in den Himmel geblickt; jeder hätte das getan. Zumindest für einen Moment hätte die Welt den Atem angehalten. Und danach? Dann würde ich meine Freunde anrufen und sie fragen, ob sie das gleiche sähen wie ich. Und wenn ich sie aufweckte, würde ich ihnen ganz aufgeregt raten, ans Fenster zu gehen und nach oben zu blicken. Wir würden Theorien aufstellen, was mit dem Mond los sei, wir würden die Fernsehgeräte anschalten, sie im Hintergrund laufen lassen und hoffen, dass die Nachrichten etwas darüber brächten. Irgendwann wären wir müde, und man würde sich voneinander trennen. Aber keiner von uns würde einfach so ins Bett gehen und einschlafen. Wir würden ein letztes Mal ans Fenster treten und in den Himmel sehen. Und wir wüssten, dass wir etwas gesehen haben, das uns für eine Nacht verband. In der Stille dieses Augenblicks waren wir alle Teil des Atems der Welt.«

 

Sitch hatte sich wieder auf den Rand der Bühne gesetzt. Als Kubak geendet hatte, lächelte er nur. »Keine schlechte Antwort.« Kubak atmete erleichtert auf. »Das klingt überzeugend. Kunst als eine Art Gemeinschaftsgefühl; ja, das kann ich nachvollziehen. Aber ich weiß nicht, was an Ihrer Ausführung mich mehr verblüfft: dass Sie eines meiner Gedichte gelesen haben oder wie Sie versuchen, meine Seele anzusprechen, indem Sie es zitieren.« 

»Ich fürchte, es war leichtsinnig von mir, Sie aufs Glatteis führen zu wollen.« 

»Nein, das war es nicht. Es war clever. Denn wissen Sie, ich bin ein bescheidener Mensch. Ich weiß, dass ein paar Gedichte nicht gegen Malerei oder ausgeklügelte Installationen ankommen können. Deshalb habe ich mir gesagt: Wenn sich aus der Masse an Reportern auch nur einer mit deinen Gedichten beschäftigt, dann kannst du ganz zufrieden mit dir sein. Das habe ich mir gesagt, und ich bleibe dabei. Wahrscheinlich wird mein Name in ein paar Tagen in jeder größeren Zeitung der Welt stehen. Aber in Klammern dahinter wird Mörder stehen und nicht Dichter. Deshalb, Kubak, bin ich Ihnen dankbar dafür, dass Sie mir dieses Quentchen Aufmerksamkeit geschenkt haben.« 

»Wenn Sie das freut, dann habe ich das gerne getan. Und ... und nun?« 

»Und nun was? Leben Sie wohl!« Damit steckte Sitch sich den Lauf der Pistole in den Mund und drückte ab. Kubak schloss nicht die Augen dabei. Er zuckte auch nicht zusammen. Er sah nur zu, wie der Körper Teddy Sitchs leblos zur Seite sackte. 

 

Kubak und Lotty hatten sich in die hinterste Ecke des Saales gedrängt und auf den Boden gesetzt. »Was glaubst du, wie es sich anfühlt?«, fragte Lotty. »Merken wir etwas?« 

»Wir werden nach draußen gezogen. Es wird kalt sein; wir werden erfrieren. Es wird sehr schnell gehen.« 

»Ich weiß nicht, wieso, aber ich hätte es lieber, wenn es langsam ginge. Wenn wir davondrifteten wie Harry DaBakia, und wenn wir sehen könnten, wie die Erde langsam kleiner wird und alles dunkler um uns herum.« 

»Du willst doch jetzt nicht etwa morbid werden?« 

»Nein, überhaupt nicht. Ich fände das einfach nur schön. Ist doch mal was anderes.« 

»Was anderes ...«

 »Was wäre dir denn lieber?« 

»Wenn die Tür aufginge. Kann ja nicht so schwierig sein; immerhin ist die Scheibe  noch in Ordnung. Oder wäre es dir lieber, mit mir zusammen durchs All zu schweben?« 

»Ich weiß nicht ...« 

»Du überlegst es dir wirklich?« 

»Ja, wieso nicht? Ich möchte nicht allein sterben.« 

»Ich denke, das könnte man lösen.« 

»Ja?« 

»Ja. Kurz bevor du stirbst, ruf mich doch einfach an, dann komme ich schnell vorbei.« 

Lotty knuffte ihn in die Seite. »Blödmann.« 

»Sag mal, Lotty?« 

»Ja?« 

»Wie hoch sind in England eigentlich die Lebenshaltungskosten?« 

»Gar nicht so hoch, wenn du nicht in den Metropolen wohnen willst. Aber einen halbwegs vernünftigen Job braucht man schon.« 

 

***

 

Penzance hatte sich in all der Zeit nicht verändert, und Kubak fragte sich, wieso ihn das verwunderte. Er hatte zwar nur zwei Tage im Orbit Hotel verbracht, aber die waren ihm vorgekommen wie ein ganzes Jahr. Die Welt hatte sich nur zwei Male um sich selbst gedreht, während im Himmel über ihr eine Kunstaustellung zu einem Karneval des Chaos geworden war. Kubak streckte die Beine unter den Tisch, atmete tief ein und blickte auf den Atlantik hinaus. Die Windparks hatten vor dem Glanz der untergehenden Sonne etwas Majestätisches an sich.

 

»Du liebe Güte«, brummte Miss Chelsea, die an ihrem Capuccino nippte. »Wenn das Verhör auch nur eine Minute länger gedauert hätte, dann hätten diese Herren sich auf dem Titelblatt einer Sonderausgabe über die Willkür der Staatsgewalt wiedergesehen.« 

»Nur die Ruhe, Clara.« Kubak fühlte sich frei. Die stundenlangen Anhörungen vor der Polizei von Penzance hatten ihn nicht im Geringsten gestört. Im Gegenteil: Er war eher froh gewesen, endlich wieder auf der Erde zu sein, und sei es nur in einem Loch wie Penzance. »Wir werden uns darauf einstellen müssen, noch ein paar Male dort zu erscheinen. Wahrscheinlich schon morgen, wenn die Landespolizei auch noch einmal alles genau wissen will.« 

»Ach, machen Sie mich nicht fertig, Kubak.« 

»Nein, im Ernst.« 

»Na wenigstens«, begann Lotty, »wenigstens schienen die Behörden dir zu glauben, dass du nichts Verbotenes angestellt hast.« Sie riss eine schmale Tüte auf und ließ den Zucker in ihren Tee rieseln. »Zumindest nichts Wesentliches. Keinen Mord, keine Erpressung.« 

»Na hoffentlich bleibt das auch so. Es ist gar nicht so einfach zu beweisen, dass man jemanden nicht erpresst hat. Zumal Teddy Sitch unserer Aussage nach nun auch nicht mehr dafür in Frage kommt.« 

»Das ist wahr. Und ich glaube ihm. Wieso hätte er lügen sollen, wenn er doch sowieso vorhatte, alles zu beenden?« 

»Vielleicht war es der Barkeeper.« 

»Meinst du?« 

»Wieso nicht? Er hatte auch DaBakias Gepäck versteckt. Das spricht dafür, dass sie sich bereits zuvor kennengelernt haben.« 

»Ja, vielleicht. Die Polizei wird das klären müssen.« 

Miss Chelsea stützte ihre Ellenbogen so heftig auf den runden Plastiktisch, dass dieser sich weit zu ihr neigte und Krümel von Teacake auf die Promenade kullerten. Zwei Möwen flogen herbei und stritten sich darum. »Ach, wisst ihr was, Kinder? Das ist mir alles herzlich egal. Ich bin nur froh, dass ihr beide wohlauf seid.« 

»Und ich kann Ihnen gar nicht genug dafür danken, Clara. Ich kann mir lebhaft vorstellen, was für ein Trara Sie veranstaltet haben, damit Kilian die Tür zum Ballsaal entgegen jeder Vorschrift noch einmal geöffnet hat.« 

»Ich bin ihn angegangen, das kann ich Ihnen sagen.« 

»Oh ja.« 

»Ich habe mich ihm regelrecht entgegengeworfen. Er hatte keine Chance.« 

 

Lotty kicherte. Dann sah sie ihrer Chefin in die Augen und nickte demütig.

 

»Denn was hätte ich ohne meine teure Assistentin angestellt? Ohne sie würde ich es doch im Leben nicht schaffen, heute Nacht einen zehnseitigen Bericht über die ComCult 2039 zu schreiben, die, so muss man sagen, unter ihresgleichen der wahre Reißer ist.« Miss Chelsea gestikulierte wild.

 

Lotty blickte unsicher zwischen ihr und Kubak hin und her. Kubak las die Klagen in ihren Augen: heute Nacht? Zehnseitiger Bericht?

 

»Was sehen Sie mich so an, Lotty? Haben Sie etwa gedacht, Sie könnten ein paar Tage freinehmen, nur weil Sie knapp dem Tode von der Schippe gesprungen sind?« 

»Na, eigentlich schon. Ich muss zugeben, ich bin ziemlich müde.« 

»Papperlapapp, Liebchen. Heute Nacht. Zehn Seiten. Sehen Sie sich Kubak an, meine Teuerste. Ich zweifle nicht daran, dass er sich sofort nach unserem netten Abschiedplausch hier auf die Socken macht und an seinem Bericht arbeitet. Oder glauben Sie, die Konkurrenz schläft?«

 

Kubak blickte für einen Augenblick ins Leere; dann sah er Lotty an. Er stellte sich vor, einfach zu gehen, die letzten Protokolle zu unterzeichnen, den Zug nach London zu nehmen und nach Deutschland zurückzufliegen. Er stellte sich Leonard vor und die paar Fetzen Klopapier, die er ihm auf den fetten Bürotisch knallen würde mit den Worten, sein Bericht sei nun druckreif. Und dann hätte er fast zu weinen begonnen. Fast. Er fing sich rechtzeitig. Aber er fühlte sich schwer, er bekam kaum Luft. Er fragte sich, ob es die Anspannung der letzten beiden Tage war, die sich langsam abbaute, um allen angestauten Gefühl Platz zu schaffen.

 

Kubak erhob sich. »Tja, ich gehe dann mal ein Hotel suchen. Es kommen noch ein paar anstrengende Tage, und es ist schon spät.« Er grinste gedrückt. »Und ich will in keiner Jugendherberge übernachten.« 

»Machen Sie es gut, Kubak.« Miss Chelsea lächelte freundlich. Lotty sah kaum auf. »Ja, mach’s gut. Vielleicht sehen wir uns.«

 

Kubak nickte, drehte sich um und ging. Er hörte die Wellen im Hafenbecken, die streitenden Möwen und den abflauenden Verkehr. Er hörte das leise Pulsieren des Windparks und die roten Wolken, die über ihm hinwegzogen. Sonst nichts. Sonst hörte er kein Sterbenswort.

 

Er kam keine zwanzig Meter, bis er unter Tränen in sich zusammensackte.

 

»Sie machen mir vielleicht Sachen, Kubak.« Miss Chelsea kramte in ihrer Handtasche nach einer Packung Tabletten. Lotty öffnete Kubak eine Dose Limonade aus der Minibar und reichte sie ihm. Er trank gierig. Miss Chelsea warf die Tasche geräuschvoll auf einen Stuhl. »Ich hätte schwören können, dass ich noch welche habe.« Sie sah sich im Raum um, als würden die Tabletten vielleicht vor ihr in der Luft schweben. »Na ja, vielleicht habe ich sie auch schon selbst genommen. Sie warten hier, Kubak, ich gehe eben in die Apotheke. Lotty, machen Sie ihm eine kalte Kompresse.« 

»Er hat kein Fieber, Madam, es ist der Kreislauf.« 

 

»Schon recht.« Sie preschte nach draußen wie eine Galionsfigur, die allen Wellen trotzt. Die Tür flog hinter ihr ins Schloss. Dann war alles ruhig.

 

Lotty saß auf der Bettkante und sah Kubak beim Trinken zu. Die Matratze gab unter ihrem Gewicht kaum nach. »Ist dir wieder besser? Was war denn los?« 

»Das war wohl der Stress. Es war einfach zu viel.« Kubak blickte zu Lotty auf. Sie glaubte ihm. »Aber es war auch ...« Er trank noch einen Schluck. »Ich hatte solche Angst, euch nicht mehr wiederzusehen, dass ich … das war irgendwie schlimmer als der Stress.« 

Lotty nickte. »Ich verstehe.« Sie zupfte nervös am Bettlaken. »Vielleicht hätte ich dich zurückrufen sollen, was? Das wäre doch irgendwie passend gewesen.« Sie lächelte schief. »Aber ich fürchte, ich hab meinen Einsatz verpasst.« Sie dachte eine Weile nach und baumelte mit den Beinen. »Ich wollte sie nicht enttäuschen, Kubak. Ihr liegt sehr viel an diesem Artikel. Es ist enorm wichtig für sie, dass wir uns die Nacht um die Ohren schlagen, um den Anschluss nicht verlieren, wie sie es sagen würde. Bei ihr geht die Arbeit nunmal vor, egal, ob ich etwas anderes lieber getan hätte oder nicht.« 

»Was hättest du denn lieber getan?« 

Lotty ließ sich nach hinten fallen und lag nun quer über Kubaks ausgestreckten Beinen. »Erst einmal geschlafen.« Ihre Hände glitten über das glatte Leinentuch und schienen nach etwas zu suchen. »So richtig ausschlafen. Und dann hätte ich dir gerne St Ives gezeigt. Ich hab da einen großen Teil meiner Kindheit verbracht.« 

»Ist es ein schönes Städtchen?« 

»Vielleicht nicht, wenn man dort nicht aufgewachsen ist. Aber ich hätte gehofft, dass es dir gefällt.« 

»Das hätte es bestimmt.« 

 

Kubak griff nach Lottys Hand, die noch immer über das Laken strich. Sie hielt inne.

 

»Meinst du«, begann Kubak, »meinst du, dass dir Clara ein paar Tage freigibt, wenn der Artikel fertig ist?« 

»Vielleicht, wenn ich bitte und bettle.« Lotty lächelte. »Ja, dann sind ein paar Tage drin, denke ich.« 

»Klingt gut.« 

»Und dein Chef? Meinst du, er gibt dir auch frei?« 

»Bestimmt. Warte, ich kläre das gleich.« Kubak richtete sich vorsichtig auf, griff nach dem Hörer des Hoteltelefons auf dem Nachttisch und wählte eine Nummer, die er leider auswendig kannte. Der Vorgang dauerte keine Minute.

 

Als Miss Chelsea zurückkehrte, saßen Kubak und Lotty nebeneinander am Fuß des breiten Hotelbetts auf dem Boden und hatten den Kopf in den Nacken gelegt. Sie schreckten hoch, als die Tür knallte. »So, nun holen Sie sich ein paar Gläser Wasser, Kubak, ich habe ein paar Sachen für Sie.« Sie griff in ihre Handtasche und stapelte weiße Packungen auf das Hotelbett. »Alles von A bis Zink, sozusagen.« Sie feixte. »Nehmen Sie von jedem zwei, dann sind Sie morgen wieder fit. Hier, Lotty, nehmen Sie auch ein paar. Das wird eine lange Nacht.« Miss Chelsea knackte mit den Fingern und setzte sich an den Arbeitstisch, der ihr kaum genügend Platz bot. »Haben Sie sich was einfallen lassen, womit wir uns von der Konkurrenz abesetzen können?« 

»Womit wir ...« 

»Natürlich. Die Geschichte von Harry DaBakia, Teddy Sitch und dem Mond wird morgen in jeder Zeitung stehen. Dass Sie bis zum Ende hautnah dabei waren, bringt uns da leider keinen entscheidenden Vorteil mehr außer ein paar exklusive Zitate von Ihren und Kubak.« Miss Chelsea kaute so intensiv auf einem Bleistift herum, dass Kubak sie fragen wollte, ob er ihr noch eine Schachtel aus der Minibar reichen könne. Doch er unterließ es. Er dachte an den Artikel, der perfekt sein musste, an die weiteren Verhöre, die morgen noch folgen würden, an Lottys Hand und an St Ives.

 

»Schreiben Sie ...«, begann Kubak, und Miss Chelsea und Lotty drehten sich zu ihm um, als sei ein Knallkörper explodiert. »Ja, das ist gut«, fuhr er fort. »Fangen Sie so an ...«

 

***

  

Am nächsten Morgen ließ sich Leonard ausgeschlafen in seinen Sessel sinken. Er kehrte mit der Handkante ein paar Papierschnippsel in den Abfallkorb, nahm einen Schluck starken Kaffee und schaltete den altmodischen Rechner an. Während der vor sich hinratterte und das Betriebssystem hochfuhr, bemerkte Leonard das rote Blinklicht auf dem Anrufbeantworter. Er zögerte zuerst, da er so früh am Morgen keine Stimmen vertragen konnte, aber schließlich siegte die Neugierde. Er drückte auf abspielen und lehnte sich entspannt zurück.

 

Eine Minute später zuckten die Redakteure des MOCCA in ihren Sitzen zusammen. Sie beugten sich tief über ihre Tastaturen, als könnten sie dem Sturm so entgehen. Manche von ihnen bezeugten, sie hätten niemals jemanden einen Papierkorb weiter werfen sehen als Leonard an jenem Morgen. 

 

Um elf Uhr morgens erschien ein zwanzig Seiten langer Artikel auf der Internetseite des Art Explorer – die ComCult 2039 – ein paar Stunden später als die meisten Konkurrenzblätter. Jemand, der den reich bebilderten Artikel aufrief, wunderte sich darüber, den Namen Harry DaBakia oder Teddy Sitch nicht in der Schlagzeile zu lesen, und fragte sich verwirrt, ob er nicht aus Versehen auf die falsche Verlinkung geklickt hatte. Er las neugierig weiter und suchte nach den Worten Mord, Aufruhr, Chaos oder erster Mörder im Weltall. Doch er fand sie nicht. Er fand nur Namen von irgendwelchen Künstlern, von denen er noch nie gehört hatte, und Fotos daneben von eigenartigen Gemälden, irgendwas mit abstrakten Formen in der Natur, Collagen, Installationen, den Mond und irgendein schnulziges Gedicht über den Atem der Welt.